DIETER ZELLER  
  Brüste oder Hoden?
Philologische, religionswissenschaftliche und tiefenpsychologische Bemerkungen zu einer interpretatorischen Alternative bei der ephesischen Artemis
 
 

Beim ersten Hören der Titelfrage fühlt man sich vielleicht an die Alternative "Brust oder Keule" erinnert, eine Fragestellung, die einem Fleischer vertraut ist. Louis de Funès hat sie filmisch verewigt. Auch hier könnte man wieder gewisse Affinitäten zu Fleischer entdecken, zumindest was die Tachyglottie angeht. Doch beim Bild der Artemis von Ephesus geht es nicht um neutrale Fleischstücke, sondern um sexuell besetzte Körperteile. Bei der Interpretation ihres Behanges hat sich in den 70er Jahren ein Wandel vollzogen, den man wissenschaftstheoretisch nur als "Paradigmenwechsel" (Th. S. Kuhn) bezeichnen kann. In seinem umfassenden Werk zum Kultbild der Ephesia (1) hatte unser Jubilar zwar schon festgestellt, daß es sich nicht um "wirkliche weibliche Brüste" handeln kann und sie deshalb in Anführungszeichen gesetzt. Aber schließlich resignierte er: "Bezüglich der Bedeutung der ‚Brüste' scheint es auch heute noch nicht möglich, über Spekulationen hinauszukommen".(2) Nachdem aber G. Seiterle (3) durch ein praktisches Experiment wahrscheinlich gemacht hatte, daß die runden Gebilde als Stierbeutel zu deuten sind, gestand Fleischer zu, daß nun die Lösung des Rätsels gefunden sei, wenn auch Fragen bezüglich des konkreten kultischen Vollzugs und der religionswissenschaftlichen Konstruktion Seiterles blieben. (4) Die Dimensionen dieses Gesinnungswandels gilt es hier auszuloten.

1. Philologisches: Brüste und Hoden bei Minucius Felix?

R. Fleischer zitiert als ältestes Zeugnis für die Auffassung als Brüste den christlichen Autor Minucius Felix (Wende vom 2. zum 3. Jh. n. Chr.), und zwar in der Form, die die einzige Handschrift Codex Parisinus 1661 (9. Jh.) bietet:

et Ephesia mammis multis et veribus exstructa. (5)

Das offensichtlich verschriebene, semantisch sinnlose veribus wird schon von den alten Herausgebern zu uberibus verbessert, (6) wobei man eine mögliche Verwechslung von b und v und eine Haplographie annehmen muß. Das Wort ist dann - wie schon in den Anmerkungen bei Migne nachzulesen - adjektivisch (prall), parallel zu multis, zu verstehen; so vermeidet man den Pleonasmus etwa bei Kytzler: "mit vielen Brüsten und Eutern".

Artemis mit Stierbeuteln Abb. 1: Rekonstruktion der Kultstatue, mit wirklichen Stierbeuteln behängt. Nach G. Seiterle, AW 10 H. 3, 1979, 8 Abb. 14.

Auf eine einfachere Konjektur scheint aber noch niemand gekommen zu sein: Man könnte auch eine akustische Verwechslung von i und e annehmen und viribus lesen. Der Plural von vis ("Kraft") wird öfter im Zusammenhang des Kybele-Kultes verwendet und meint spezifisch die Hoden, sei es der sich entmannenden galli (Passio S. Symphoriani 6) bzw. ihres mythischen Urbilds Agdistis (Arnobius, adv. nat. 5,6), sei es der im taurobolium geschlachteten Opfertiere (CIL V 6961f; XII 1567; XIII 522.525.1751). (7) Durch emsiges und ingeniöses Konjizieren hätte man also schon längst auf die richtige Spur geführt werden können. Zugegeben: es bleibt merkwürdig, daß der christliche Betrachter zwei Arten von Genitalien wahrzunehmen glaubt, aber das könnte an seinem Interesse liegen, die Monstrosität der Erscheinungsformen paganer Götter zu steigern. (8)

2. Religionswissenschaftliche Deutung: Hoden als Weihegabe

Gehen wir also einmal mit Seiterle davon aus, daß am Frühlingsfest der Artemis Stieropfer dargebracht wurden und die Hoden samt Behältnissen ans Kultbild geheftet wurden, das eigens aus dem Heiligtum zum Altar verbracht worden war. (9) Dadurch wird die ephesinische Artemis stark in die Nähe der Kybele, ihrer Konkurrentin vom Panayir Da( gerückt, deren Hauptopfertier der Stier war (10) und in deren Kult die Hoden, sei es ihrer fanatischen Diener, sei es der geopferten Stiere und Widder, eine besondere Rolle spielten. Wie ist dieser Befund zu deuten? Freundlicherweise überläßt R. Fleischer dazu das Wort den "zuständigen Religionswissenschaftlern". (11) Wir ergreifen es gern.

Zunächst fällt auf, daß die Hoden im Kult der Kybele anders behandelt werden als im Fall der Artemis. Nach Arnobius, adv. nat. 5,7.14 liest die Große Mutter die abgeschnittenen Genitalien ihres Geliebten auf, bedeckt sie mit einem Kleid und birgt sie gewaschen und gesalbt in der Erde. Sie werden also begraben wie auch der kultische Stellvertreter des Attis, die gefällte Pinie. Auch von den Gallen, die sich in ekstatischer Trauer um Attis entmannen, wird gesagt, daß sie die Schamglieder in einer Höhle beizusetzen pflegen. (12) In der Passio Sancti Symphoriani (13) charakterisiert der Märtyrer den Kult der Mater Berecynthia in Augustodunum damit, daß dort Heranwachsende die aus dem Körper herausgeschnittenen Hoden unter Jubel an das unselige Bild schmeißen (illidunt) - von "Anheften" (14) ist nicht die Rede. Man fühlt sich an die mythische Ätiologie bei Clemens Alex., protr. II 15,2 erinnert: Hier reißt Zeus einem Widder die Hoden aus und wirft sie der erzürnten Deo (=Kybele) in den Schoß, "heuchlerisch Sühne leistend für seinen gewaltsamen Annäherungsversuch, gleichsam als würde er sich selbst kastrieren". Die beim Tauro- bzw. Kriobolium entgegengenommenen und sorgsam bestatteten Hoden des Opfertieres könnten so tatsächlich einen Ersatz für die Selbstkastration darstellen, die etwa dem Archigallen als römischem Bürger, aber auch den Frauen nicht möglich war. (15) Auf jeden Fall kommen die Genitalien durch die Beerdigung der Großen Mutter Erde zugute und bewirken Fruchtbarkeit (z.B. Ovid, fast. 5,227f.; Arnobius, adv. nat. 5,7 ein Veilchen entsteht aus dem Blut; Tert., adv. Marc. 1,13; Firm. Mat., err. 3,2 "physische" Allegorie der Kastration auf das Mähen des Getreides, das zu neuem Samen wird).

Nun schließt Seiterle aus dem unterschiedlichen Ritus: "Im Zusammenhang mit der Artemis ist das Weihen der Stierhoden nicht als Ersatz für ein Blutopfer zu deuten, sondern vielmehr als Opfer zur Erlangung der Fruchtbarkeit". "Durch die Darbringung des Samens wurde die Göttin ‚befruchtet'". (16) Hier schießt die erotische Phantasie der Ausleger doch ins Kraut. Um der Befruchtung zu dienen, dürften die Stierbeutel doch nicht am Oberkörper befestigt sein. Außerdem: welche Perversionen hat man sich beim Zeus Labraundos vorzustellen, der ähnliche Gebilde an der Brust hängen hat? Mir scheint, daß der Sinn der Hodenapplikation ganz ähnlich wie bei der Kybele als Weihung bzw. Gabe, wenn auch nicht als Substitutionsopfer, zu bestimmen ist. Die Quellen, die die Selbstentmannung als Weihung deuten, sind freilich spät: Scholion ad Lucian, Iup. trag. 8: ἀνατίθεσθαι, ἀνακεῖσθαι und zwar für Attis; als Blutopfer für Kybele verstehen sie christliche Autoren. (17) Daß die Taurobolien der Großen Mutter gewidmet sind, ist schon aus den Aufschriften der Gedenksteine klar. Die ephesische Göttin trägt die Stierhoden wie Trophäen, wie David die unbeschnittenen Genitalien von 200 Philistern triumphierend vorlegt (1 Samuel 18,27) oder wie die Indianer den Skalp der Gegner am Gürtel hängen haben. Natürlich wächst ihrem Bild dadurch Kraft zu, wie Prudentius von der blutbeschmierten Kybele sagen kann: illam revulsa masculini germinis / vena effluenti pascit auctam sanguine. (18) Durch das Opfer ihrer eigenen Zeugungsorgane bzw. die sie vertretenden Stier- oder Widderhoden steigern die Verehrer der Kybele deren Effizienz für die Fruchtbarkeit. Das wird z.B. darin anschaulich, daß auf der Kiste eines Gallus Ähren den Schwanz eines Hahns bilden (CCCA III 395).

R. Fleischer sträubt sich in Bezug auf die Ephesia gegen diesen paradoxen Mechanismus, wenn er auf ihre jungfräulichen Priesterinnen, den kastrierten Oberpriester (Megabyzos) und die wenigstens zeitweise enthaltsamen Essenen verweist und meint: "Die Forderung nach Jungfräulichkeit bzw. sexueller Enthaltsamkeit steht zur Fruchtbarkeitsgöttin deutlich im Widerspruch". (19) Als lebten die phrygischen Priester der Kybele nicht auch notgedrungen jungfräulich! Durch das Opfer ihrer eigenen Fruchtbarkeit werden sie zu idealen Priestern der Fruchtbarkeitsgöttin. Eine Parallele bieten die indischen hijras: sie haben sich kastriert, und dennoch sichern sie rituell bei Hochzeiten und Geburten den Segen ihrer göttlichen Herrin Mata. (20) In Kleinasien sind jungfräuliche Priesterinnen auch im Kult der Kybele bezeugt (Kyzikos, Apollonia Salbake). Der männliche Paredros, den Fleischer bei der Ephesia vermißt, ist nach den neueren Forschungen von Roller auch bei der phrygischen Matar nicht auszumachen. Wir stellen also bei Fleischer eine Hemmung fest, den Charakter der bei den Griechen traditionell jungfräulichen Gottheit stärker orientalisch zu bestimmen: Sie ist die Urheberin des vegetativen und animalischen Lebens, wie es auch sonst auf dem Zierrat ihrer Statue zum Ausdruck kommt. Als Mutter - etwa der Götter und Menschen - erscheint sie freilich nicht. Dasselbe Problem hat man aber auch bei der Bergmutter Kybele, die selten kurotroph dargestellt wird. (21)

Solche Inkonsequenzen der Gelehrten müssen tiefenpsychologisch durchleuchtet werden.

3. Tiefenpsychologische Analyse:

Artemis aus Marmor Abb. 2: Marmor-Statuette der Artemis Ephesia im Basler Antikenmuseum. Nach G. Seiterle, AW 10 H. 3, 1979, 9 Abb. 16.

In der Tat hat die beschriebene interpretatorische Revolution "Von Brüsten zu Hoden" auch interessante Aspekte, wenn man die Forscher selber auf die Couch des Tiefenpsychologen legt. (22) Diese Aspekte sind sowohl individual- wie sozialpsychologischer Art. Das vieldeutige Gehänge der Ephesia wirkt wie ein Rorschachtest, und seine Interpretation verrät die verdeckten Sehnsüchte und Ängste der Interpreten. Die Deutung auf Brüste ist dem Wunschbild der Allernährerin verpflichtet, deutlich bei der Renaissancereplik im Garten der Villa d'Este (Tivoli), wo aus allen Brüsten noch Wasser sprudelt. Man kann nicht umhin, hier von einer infantilen Fixierung auf die Mutterbrust, auf orale Autoerotik zu sprechen. Der junge R. Fleischer der Habilitationsschrift hatte diese Fixierung schon überwunden, indem er die "Brüste" in Anführungszeichen setzte und sich so davon distanzierte. Aber erst nach dem Aufsatz von Seiterle gelang ihm der Durchbruch zur Genitalität. Die Wegwendung von den Brüsten hin zu den Hoden markiert den Weg von passiver zu aktiver Sexualität.

Doch immer noch weigert sich Fleischer, die Artemis von Ephesus als Fruchtbarkeitsgöttin anzuerkennen. Verbergen sich dahinter Kastrationsängste? Die Muttergöttinnen entmannen z. T. selbst ihre unzureichenden Geliebten, so nach einer Version des Attis-Mythos Rhea (Lukian, Dea Syria 15) oder die indische Mata ihren impotenten Bräutigam. Die Art, wie die ephesische Göttin die Hodensäcke ihrer Opfertiere sammelt und sich damit schmückt, könnte eine männerverzehrende femme fatale assoziieren lassen. R. Triomphe verbindet die Stierhoden mit denen des Megabyzos und sieht im Stier nur den Vertreter eines "natürlichen Übertreters", gegen den die wilde Göttin durch Kastrierung alles Männlichen ihre Macht demonstriere. Sie bedient sich der tierischen Zeichen, um ihre Herrschaft über das Männliche zu behaupten, das sie nur getötet, kastriert oder gezähmt kennen will. (23) Von einem solchen Schreckensbild her, bei dem der Mann in die Rolle des "transgresseur naturel" gedrängt wird, wird vielleicht eine letzte Abwehr bei Fleischer verständlich. L. Roller (24) sagt von der römischen Kybele: "The Magna Mater was not only the representative of the noble past and the glorious future of Rome, but also a seducer and destroyer of men. As a goddes surrounded by effeminate castrati, she came to represent the male's uncertainty and ambivalence about, even fear of, his own sexuality". Gleiches könnte von der ephesischen Artemis gelten, die ebenfalls von Sterilen bzw. Enthaltsamen umgeben ist.

Das Wort "Fruchtbarkeitsgöttin" löst bei Männern tiefsitzende Phobien aus, auch was die Herrschaftsstrukturen an einem Seminar angeht. Pflegt doch die Forschung von den steinzeitlichen Idolen bis zu den kleinasiatischen Muttergöttinnen eine Linie durchzuziehen und aus der Dominanz dieser Göttinnen auf das Matriarchat zu schließen (25). Wenn Artemis von Ephesus nicht mehr vielbrüstige weibliche Fürsorge, sondern mit Stierhoden dekoriert männliche Potenz signalisiert, wie Fleischer in seinem neuesten Beitrag formuliert (26), sozusagen "Hoden statt Brüste" hat, mag sich mancher Mann an die amazonenhaften Frauenbeauftragten erinnert fühlen, die das Patriarchat an unseren Universitäten knacken möchten. Vielleicht ist es ja kein Zufall, daß der Mythos die Amazonen mit dem Heiligtum der Artemis verbindet. Aber ehe ich mich hier zu weiteren Spekulationen versteige, will ich dem Jubilar zurufen: ad multos quam fructuosissimos et uberrimos annos!

 
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