FAHRI IŞIK  

Es stellt sich nun die Frage, welche Göttin mit der idolhaft gebildeten Halbstatue von Letoon gemeint war? Denn in dem einen göttlichen Bild konnten verschiedene, mit der Göttermutter gleichgesetzte Göttinnen erkannt werden, die von R.Fleischer als "kleinasiatische" oder "anatolische Schwestern" bezeichnet worden sind (17). Es könnte die Muttergöttin selbst darstellen, die in Lykien als Eni Mahanahi bekannt ist (18). Diese höchste Göttin des Volkes kann möglicherweise mit Leto gleichgesetzt werden (19). Aber auch ihre Gleichsetzung mit Kybele ist in der Forschung vorgeschlagen worden (20). Dies dürfte anhand der Darstellung der Kybele am Siphnierschatzhaus, wo sie hinter den "kleinasiatischen Geschwistern" Artemis und Apollon anstelle ihrer Mutter Leto den Löwenwagen führt (21), nachzuweisen sein. Diese Gleichsetzung von Kybele und Leto dürfte zugleich die Antwort darauf sein, warum sitzende Löwen in Griechenland nur die Prozessionsstraße zu ihrem Temenos auf Delos säumten (22). Leto besitzt auch im Letoon einen Tempel (Abb.6 r.), der sich als Hauptheiligtum des lykischen Volkes eines besonderen Rufes erfreute (23). Folglich wäre das Problem hinsichtlich Deutung des Idols aus dem Letoon durch seine Benennung als Muttergöttin bzw. als "Leto" gelöst, wenn nicht die Eigenschaften, die der Kybele eigen sind, auch für Ertemi, ihre Tochter Artemis, zutreffend wären (24) und ihr dort ein Kultplatz gefehlt hätte. Sie hat aber im Letoon ebenso einen ruhmhaften Tempel, der zwischen dem ihrer Mutter und ihres Bruders liegt (Abb.6) (25).

Letoon
Abb.6: "Felstempel" der Ertemi im Letoon.

Da in der anthropomorphen Halbstatue von Letoon das Sinnbild für Kybele oder für die ihr im Wesen verwandte Leto oder Ertemi zu sehen ist, muß auch in Lykien eine abstrakte göttliche Vorstellung in der Form des Felskultes vorgeherrscht haben. Tatsächlich nahmen auch die Lykier, der altanatolischen Tradition folgend, in den Bergen bzw. Felsen die göttliche Kraft wahr. Diese göttliche Kraft besaß in Phrygien als einzige Kybele, die "Göttin der Berge" (26), die im lykischen Land unter verschiedenen Namen, nämlich als Eni Mahanahi, Leto oder Ertemi, als Muttergöttin Altanatoliens oder ähnlichen Erscheinungsformen, im Felsen drin wahrgenommen (27). Deswegen mußte im benachbarten Pisidien die Cella der Kybele in Antiocheia - unterhalb des Naos des Augustus - aus dem anstehenden Felsen gehauen werden (28) und in die Cella der Ertemi im Letoon "merkwürdigerweise ein Felsblock miteinbezogen" (29) werden (30). Schon seit dem 2. Jahrtausend v.Chr. besaß Kubaba auf der Akropolis von Kargamış einen Tempel, der "im Innern, tiefer liegend und in einen festen Kern eingesenkt, eine in keinem anderen Tempel nachgewiesene flache Nische hatte, in der, durch Treppen zugänglich, ein Altar oder eine Basis stand" (31). Und in Delphi, unmittelbar am Hang des Orakelheiligtums ihres Sohnes, wird ein kleines anstehendes Felsstück als "Felsen der Leto" bezeichnet (32). Auch hier läßt die aus dem ursprünglichen Charakter der anatolischen Muttergottheit stammende Ähnlichkeit der "anatolischen Schwester" keine eindeutige Bestimmung der Göttin zu.

Zuletzt soll hier versucht werden, die Benennung der anthropomorphen Halbstatue als Eni Mahanahi, Leto oder Ertemi nach ihrem Fundort in der heiligen Stadt Lykiens zu bestimmen. Bean fand sie an einer Stelle, nämlich in der Nähe des Theaters auf einer Dornenhecke liegend (33), die weit nördlich von den Tempeln der Mutter und Tochter liegt und mit keinem davon unmittelbar in Verbindung zu bringen ist. Auch ein mögliches Verschleppen von den Tempeln der Leto oder Ertemi oder vom Theater (34) zum Fundort ergibt keinen Sinn (35). Wie die stark korrodierte Oberfläche zeigt, muß das Idol vom Anfang an im Freien gestanden haben, d.h. für einen offenen Kultplatz geschaffen worden sein. Der horizontale Abschluß unterhalb der Bauchhöhe diente dann als Standfläche auf einem Felsboden und seine flach ausgeführte Rückseite diente zur Aufstellung des Votivbilds vor einer Felswand oder in einer Felsnische.

Offene Felsheiligtümer werden auch in diesem Kultbezirk nicht gefehlt haben. So scheint eine aus zwei "Stufen" bestehende Anlage am felsigen Osthang als ein "Stufenaltar" zu interpretieren sein und die künstlich eingeebnete Fläche auf der Felsterrasse unmittelbar östlich des Apollontempels als ein Kultplatz.

Die Verehrung der mit der lykischen Hauptgöttin Eni Mahanahi gleichzusetzenden Kybele in dieser Landschaft ist auf den Kultterrassen von Limyra (36) und auf dem offenen Felsheiligtum von Kıncılar bei Seki (37) mit der herkömmlichen Darstellung auf dem Löwenthron belegt. Dieses Bildmotiv ging bekanntlich als eine Frucht der rein anatolischen Gedankenwelt sogar auf die vorneolithische Zeit zurück (38). In Bezug auf den Felskult "wohnte" die Göttermutter schon bei den Hethitern am Sipylos thronend im Felsen. Dies galt "als ältestes Bild der Kybele" (39). In der Bronzezeit gab es in Lykien als Muttergöttin die Eni Mahanahi (40) und sie besaß nach einem hethitischen Text "a sanctuary across the Siyanti River" (41). Sie konnte sich im eisenzeitlichen Lykien weiterhin als Hauptgöttin des Landes in ihrer altherrkömmlichen Stellung behaupten (42). Leto aber dürfte hier neben dieser Muttergöttin, als eine mit ihr bzw. mit Kybele gleichgesetzte "anatolische Schwester" (43), ihren separaten, eigenen Kult gehabt haben (44). Und die idolhafte Halbstatue als ein mit einiger Wahrscheinlichkeit in einem offenen Felsheiligtum im Letoon aufgestelltes Votivbild dürfte wohl zugleich als Beleg für die gleichzeitige Existenz der lykischen Muttergöttin Eni Mahanahi mit Leto gelten (45), die in Phrygien Kybele hieß.

Nachdem das lykische freie "Idol" bildmotivisch und ikonographisch mit den anthropomorphen Statuen der phrygischen Kybele in Verbindung gebracht worden ist, dürfte es auch zeitlich vom Kontext seiner Vorbilder nicht weit getrennt werden. Die in den Gesichtszügen mit der lykischen "Halbstatue" (Abb.1) vergleichbaren phrygischen Schöpfungen von der Akropolis von Gordion stammen aus dem späten 6. und frühen 5.Jh. v.Chr. Die erstere im Museum von Gordion (46) weist in der Darstellungsart der perlenartig übereinander liegenden Stirnhaare und der lächelnden Gesichtszüge eindeutig vorklassische Formen auf, wodurch sie sich zweifelsohne in die spätarchaische Epoche datieren läßt; sie stammt "aus dem archaischen Schutt" (47). Die zweite im Museum von Istanbul (Abb.3) (48) befindliche Statue ist trotz der entwickelteren Züge im Schnitt und in den Einzelzügen des Gesichtes und in der Frisur immer noch in die vorklassische Periode zu setzen (49). In dieselbe Epoche der Kunst gehört auch die lykische anthropomorphe Halbstatue von Letoon, die stilistisch innerhalb der phrygischen Bildgruppe viel mehr mit der früheren Schöpfung Ähnlichkeiten aufweist. Trotz des schlechten Erhaltungszustands und der unterschiedlichen Provenienz sind die stark schwellenden Wangen und die nach außen hin mandelförmig gespitzten großen Augen gut vergleichbar; ähnlich scheint auch das zugespitzte Kinn. Der gerundete Kopf mit dem breiten Hals, den großen, vorstehenden Augen und den weichen Gesichtszügen mit geschwollenen Wangen ist vor allem mit dem Kopf des Faustkämpfers auf dem bekannten reifarchaischen Ringerrelief von Xanthos (50) nahe verwandt, wodurch zugleich eine werkstattmäßige Verbindung der beiden lykischen Schöpfungen aus den benachbarten Städten im einheimisch-ionischen Stil nachgewiesen sei.

Auch später entstehen nicht nur die "üppigen Gestalten des Harpyienmonuments" (51), sondern auch die kurz danach in der Übergangszeit zur Klassik entstandenen Sphingen in den Giebeln zweier Grabbauten aus Xanthos (52) "völlig im Banne des milesisch-ionischen Stiles" (53). Eine ähnlich runde und weiche Machart weist auch die Fürstin im Giebel des Grabmals "F" (54) aus der beginnenden Klassik auf. In Lykien bedeuten "die archaistischen Züge also nicht die Rückständigkeit einiger Bildhauer, sondern das bewußte Festhalten an traditionellen Formen" (55). Trotzdem ist der Unterschied zwischen dem Kopf der idolhaften Halbstatue von Letoon bzw. des Faustkämpfers von Xanthos und den letztgenannten Köpfen aus dem ersten Viertel des 5.Jhs. v.Chr. mit der nicht mehr geschwollenen sondern großflächigen Wangenpartie und den nicht mehr großen und vorstehenden, sondern kleinen mandelförmigen Augen unverkennbar. Und diese Entwicklungsreihe stimmt mit der oben durch die beiden phrygischen Halbstatuetten aus Gordion gebildeten so gut überein, daß - durch Vergleiche mit den phrygischen und einheimischen Schöpfungen und durch den allgemeinen Zeitstil - das schlecht erhaltene provinzielle Werkes von Letoon zeitlich ungefähr eingeordnet werden kann. Ich tendiere, sie um die Zeit des Ringerreliefs von Xanthos zu datieren, nämlich in das 3. Viertel des 6.Jhs. v.Chr.

Sollte diese Datierung zutreffen, ist mit dieser anthropomorphen Halbstatue von Letoon das bisher früheste großplastische Werk Lykiens belegt. Wenn ihre Deutung als "Eni Mahanahi" stimmt, ist folglich auf der Südwestecke Anatoliens in der einheimischen Denkart eine feste Brücke zwischen den bronzezeitlichen Lukka-Leuten und den eisenzeitlichen Lykiern geschlagen (56).

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