ELMA HEINZEL  

In der weisen Melanippe bezeichnete sie sich selbst als herrührend von Hellen und dessen Sohn Aiolos, aber wir dürfen darin bloß eine Angleichung an den Stammbaum der Tyro interpretieren, es bleiben also Aiolos I als Stammvater der Aioliden Kretheus, Sisyphos, Salmoneus und Athamas etc., von daher, nämlich von Salmoneus, stammte Tyro ab, Aiolos II haben wir als thrakisch erneuerte Expansionspolitik der Aioler identifiziert, er käme als Geliebter der Hippo und Vater der Melanippe in Frage, dann hätten wir noch den Partner der Melanippe, Hippotes bzw. Poseidon, der für den Nachwuchs der Zwillinge Aiolos und Boiotos sorgte, letzterer, Aiolos III, wäre dann als einziger der Genannten auf der erzumwehrten Insel beheimatet gewesen, welche u. U. als den Liparischen Inseln zugehörig zu identifizieren wäre.

Parallel zur Tyro haben wir also das Stemma der Melanippe aufzufassen, nur daß sich die einstige Machtentfaltung der Aioliden nicht mehr wiederholt hat. Grund für die Entmachtung war wohl die Abhängigkeit von Delphi gewesen. Denn Melanippe ehelichte den König Metapontos aus der Siritis in der zweiten Ehe desselben, die Zwillinge Boiotos und Aiolos waren der eigentliche Anlaß des Königs gewesen, Melanippe zur Frau zu nehmen. Denn seine erste Frau Theano war vorerst kinderlos geblieben. Metapontos war Nachfahre pylischer Flüchtlinge. Als er sich durch seine Frau enttäuscht sah und ihr drohte, sie zu verstoßen, schickte diese zu Hirten einen Boten mit der Bitte, ihr auf irgendeinem Wege ein Kind zu verschaffen. Es traf sich, daß sie auf die Zwillingssöhne der Melanippe stießen, die sich demnach in Unteritalien als Zugewanderte wiederfanden. Aus der Μ. ἡ σοφή erfuhren wir, daß die Hippo als Sternbild in der Rolle des θεός ἀπό μηχανῆς auftrat und für eine Lösung aus der Not sorgte (20). Anders verhält sich der Hergang des Geschehens bei der ἡ δεσμῶτις. Den fortlaufenden Inhalt erfahren wir aus Hyg. fab. 186: für ihr schamloses Verhalten wurde Melanippe vom eigenen Vater geblendet und in ein Grabmal eingeschlossen. Ihre Zwillinge müssen aber auf irgendeine Weise nach der Siritis gebracht worden sein, weil sich die Handlung des Stückes nach dorthin verlagert hatte. Theano wurde nach der Aneignung der fremden Kinder ebenfalls Mutter von zwei Knaben und sann auf Rache, um die Erbfolge ihren Söhnen zu sichern. Was an Ungereimtheit an diesem Stück auffällt, ist die erstaunliche Liebe des Königs zu den untergeschobenen Kindern, während er die beiden Nachzügler abzulehnen schien. Nach allem waren aber gerade letztere angeblich sein Erbgut. Im Verlaufe des Geschehens, als der königliche Gatte ausgegangen war, um der Diana Metapontina zu opfern, entfachte sich ein Streit unter den Brüdern: Die Söhne der Theano, also der Königin, waren bei der Auseinandersetzung von den beiden Älteren in Notwehr getötet worden und wurden tot in den Palast zurückgebracht, Theano beging daraufhin Selbstmord (21). Der leidtragende König aber ließ sich über die treulose Theano aufklären (über ihren Ausweg, zu Kindern zu gelangen?) und als glücklich empfundene Lösung befreite er mit der Zustimmung des Poseidon Melanippe aus dem Kerker, erlöste sie von der Blindheit, nahm sie zur Frau und adoptierte ihre Kinder. Die Kinder waren terata gewesen, also Wunderzeichen eines Gottes und Gunstbezeugung desselben. Während Melanippe im Kerker saß, wurden sie in Unteritalien ausgesetzt und dort von Hirten gefunden. Die Frage gilt nach dem zeugenden Gott, denn einen solchen muß man voraussetzen - terata waren die Mitteilung von göttlichem Willen, der auf Befragung bei Orakelauskünften von Priesterhand vermittelt wurde (22). Melanippe kann wahrscheinlich als Poseidonpriesterin gelten, ihr Name bezeugt sie jedenfalls als schwarze Stute, beigeordnet dem Poseidon Hippios, ihre Bestrafung durch Einmauerung beweist sie als Priesterin - analog zur Vorgangsweise bei Vestalinnen. Anzunehmen ist deshalb, daß ihre Kinder dem König als terata zugedacht waren.

Aber nur die Zeugungslegende von Pelias und Neleus geht primär auf die Geburtslegende des Romulus und Remus über, erst sekundär findet auch der Mythos von den beiden Frauen Hippo und Melanippe weitere Verbreitung (23), trotz der Bearbeitung des Stoffes durch Euripides.

Voraussetzung für die Romulussage bei Fabius Pictor bildete die sophokleische Fassung der Tyro. Für die Wiedergabe der Sage bei Fabius diente als Grundlage die Darstellung der Gründungsgeschichte Roms durch Diokles von Peparethos (nach Plut. Romul. 8) (24). Es gibt in der Sagenfassung zur Ilia, der unverheirateten Mutter der Knaben Romulus und Remus, anscheinend bewußt eingeführte Analogien zum Leben der Tyro und ihrer Kinder, allerdings nicht mehr darin, was die weitere Historie um Pelias und Neleus betrifft, deren Leben im Grauen und in der Entmachtung endete. Bei Fabius gilt Ilia als Tochter des Königs von Alba Longa, Numitor, während sie bei Naevius und Ennius Tochter des Aeneas ist. Fabius - und damit Diokles - mußte seine Ilia wenige Generationen nach Aeneas angesetzt haben, da bei den Machtansprüchen der Könige von Alba das aus Troja mitgebrachte Gold eine entscheidende Rolle spielte. So berichtet Diokles, daß es unter den Nachfahren des Aeneas zur Auseinandersetzung um die Herrschaft von Alba kam, zwei Brüder befehdeten einander, Amulius schlug eine Teilung des Besitzanspruches vor, er selbst wählte das vorhandene Vermögen sowie das von Troja mitgebrachte Gold, Numitor dagegen entschied sich für die Königsherrschaft (25). Allein mit der Hilfe des erworbenen Reichtums gelang es Amulius, den Bruder zu entmachten. In diesen Konflikt hineingeboren, wurde Ilia von Amulius zur Vestalin bestimmt, um keine Erbansprüche von seiten seines Bruders Numitor befürchten zu müssen. Aber als Vestalin wurde Ilia trotzdem vom Gott Mars schwanger und ihr Zustand entdeckt. Nach der Geburt der Zwillingskinder Romulus und Remus werden diese ausgesetzt und - im Werdegang der Ilia von einer Wölfin gesäugt - bzw. von einem Specht ernährt, beides Tiere des Mars. Für ihr Vergehen der Schwangerschaft wird über Ilia das Todesurteil verhängt, welches in seiner Ausrichtung kein römisches sein kann. Sie wurde verurteilt, mit Ruten gepeitscht und danach getötet, während nach römischem Brauch eine Vestalin nach solchem Vergehen lebendig begraben wurde (26).

Bei Ennius wird Ilia in den Tiber geworfen (Serv. Aen. I 273), die ausgesetzten Kinder werden auch hier von einem Hirten, Faustulus, gefunden und von dessen Frau Acca Larentina aufgezogen. Die Erzählung benennt Acca Larentina als Lupa (=Dirne), mit dieser Bezeichnung liegt eine Anspielung auf die nährende "Wölfin" vor. Da dem Wolf die Bedeutung des "Verbannt-Seins" innewohnt, könnte man in diesem Fall das Aussetzen der Kinder mit deren Verbannung gleichsetzen. In dieser Sagenversion, die also die Gründungsgeschichte Roms miteinbezieht, wird berichtet, daß Acca Larentina 12 Söhne gehabt habe, als einer davon starb, wurde Romulus an dessen Stelle gesetzt, diese Komplettierung der Zwölfzahl benannte man als die fratres Arvales. Acca Larentina soll auch den Beinamen Fabula getragen haben und damit zur Ahnherrin des Fabischen Geschlechts geworden sein.

Neben rein äußerlichen Ähnlichkeiten in der Behandlung der Sagenstoffe der Sophokleischen "Tyro", nämlich beider Dramen gleichen Namens, und der dramatischen Gestaltung der Romulus- und Remus-Sage, wie z.B. dem pikanten Auftreten der liebeshungrigen Götter Poseidon bzw. Mars, die beide vorausahnend die Zukunft verheißen, daß ihre Geliebten Zwillinge gebären werden, gab es auch noch eine innere Gemeinsamkeit, die das Aussetzen der Kinder politisch begründete. Trotz der göttlichen und damit entschuldbaren Schwangerschaften werden beide Frauen ihres Zustandes wegen verfolgt: Tyro von ihrer Stiefmutter Sidero, Ilia von ihrem Oheim Amulius, beider Kinder werden von Tieren gesäugt und von Hirten gefunden, auch die Erkennungsszenen sind ähnlich gestaltet: nämlich die σκαφή, in welcher die Kinder ausgesetzt waren (Abb. 2. 3), erhält für die Erkennungszenen entscheidende Bedeutung, ἡ ἀναγνώρισις der Kinder und die Rache an den grausamen Erziehern bildeten jeweils den Schluß. In der etruskischen Aufbereitung der Sage erscheint Tyro lang gewandet zwischen ihren Söhnen bzw. Poseidon. Die Beischrift auf dem Brunnenrand, Flere, wurde von R. Engelmann (27) mit Götterbild übersetzt, doch die Erscheinung der Halbfigur über dem Brunnenrand läßt am ehesten an eine Erinys denken - mit Schlangen um den Hals und am unteren Abschluß des Brunnensockels. Vielleicht könnte man an eine Ableitung vom lat. Verbum flere (=weinen) denken.

Beiden Müttern scheint durch ihre Söhne Gerechtigkeit geworden zu sein, im einen Fall befreien die bereits erwachsenen Söhne ihre Mutter Tyro und töten die böse Sidero (Abb. 4), im anderen Fall ermorden die beiden Söhne Romulus und Remus den grausamen Amulius.Das Ende im Drama scheint sich mit der Historie zu decken, die Tyro scheint von Kretheus nach Thessalien gerettet worden zu sein, jedenfalls wird sie dort als Mutter etlicher Söhne bezeugt (28), sie wurde von Poseidon für seine Zwillingskinder in ein königliches Dasein überstellt, während sich im Falle der Ilia, die zum Tode im Tiber verurteilt war, der umgekehrte Pfad auftat, vom grausamen Schicksal besiegt, erwachte sie in den Armen des Flußgottes zu neuem Leben, denn dieser nahm sie zur Gemahlin (so jedenfalls bei Enn. ann. 35ff.), er machte sie unsterblich.

Bronze-Situla
Abb. 2: Bronze-Situla (ehem. Slg. Czartoryski) falsche Deutung im LIMC V/1 (1990) Sp. 238 Abb. zu Nr. 398a. R. Engelmann, Archäologische Studien zu den Tragikern (1900) Abb. 15 auf S. 40.

LIMC V 1 (1990) Sp. 238 Abb. Zu Nr. 398a: die Deutung auf Amphitrite entspricht nicht. Die Anagnorisis der Tyro - als Prinzessin gekleidet, ein Schöpfgefäß an einer Winde haltend - mit ihren Zwillings-söhnen Pelias und Neleus an einem Brunnen, rechts im Bild Poseidon mit Dreizack, links vom Altar der Jüngling Pelias mit der Skaphe, dahinter Salmoneus (mit Lorbeer bekränzt), dahinter Kretheus oder eher wahrscheinlich Neleus, welcher die Szene abschließt. Spätes 4. Jh. v. Chr.


Es gibt aber auch historische Parallelen und Gleichungen. Salmoneus, der Vater der Tyro, wurde wegen seines gottlosen Verhaltens - er wollte Zeus übertrumpfen und ahmte künstlich dessen Donner und Blitze nach - als Vergeltung dafür selbst vom Blitz des Zeus getroffen (29). Einen ähnlichen Frevel soll auch Amulius, der in diesem Fall zum Aventinus geworden ist, begangen haben, auch er wird von den Blitzen des Zeus erschlagen, eine Fabel, die wahrscheinlich ebenfalls über Sophokles bekannt geworden ist, der ein Satyrspiel zum gleichen Thema verfaßte.

Der Hintergrund dieser Sagenkreise ergibt sich aus der Feststellung, daß sich sowohl für Metapontum als auch für Alba Longa bedeutende Reichtümer voraussetzen lassen, nach Metapontum stellten sich pylische Flüchtlinge ein, die von Herakles nach Ermordung des Adelshauses vertrieben worden waren.

Spiegel Abb. 3: Etruskischer Spiegel aus Perugia, in Neapel, NM. Hier nach E. Gerhard, Etruskische Spiegel II (1845) Taf. 170; C. Robert, Tyro. Hermes 51, 1916, Abb. 2 auf S. 277.
In der Mitte die langgewandete Tyro mit Eimer an einem Seil in der linken Hand. Ihre beiden Söhne, unbekleidet und mit Lanzen ausgestattet, flankieren sie. Ganz links der Brunnen mit der Aufschrift: Flere, darüber in Halbfigur wohl Erinys mit Schlangenhalstuch und Schlange unter dem Brunnensockel. Beischriften: Pelias (mit Skaphe), Turia (=Tyro), Nele, Flere (von flere=weinen?).
Um 330 - 320 v. Chr.
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