ELMA HEINZEL  
Hippe und Melanippe im Kultgeschehen des Poseidon

"Als Rheia den Poseidon gebar, habe sie ihn in eine Herde gelegt, damit er hier mit den Widdern lebe, und danach sei auch die Quelle benannt gewesen (Arne), weil die Widder um sie weideten; sie habe zu Kronos gesagt, daß sie ein Pferd geboren habe, und gab ihm ein Fohlen statt ihres Kindes zum Verschlingen, wie sie ihm auch später statt des Zeus einen in Windeln gewickelten Stein gab" (1). Ebenso wurden seine Söhne in einer Herde ausgesetzt: die Zwillinge Pelias und Neleus von der Tochter des Salmoneus, Tyro (Diod. VI 6, 5), in einer Pferdeherde, die mit Melanippe gezeugten Zwillinge Boiotos und Aiolos in einer Rinderherde. Sie war eine außereheliche Tochter der Hippo, einer Tochter des Chiron, von dem die Pferdegestalt vererbt worden war. Seine Zwittergestalt hätte der Kentaure Chiron deshalb, weil sich Kronos in Gestalt eines Hengstes mit der Okeanide Philyra (Hes. Theog. 1002), die sich ihm als Stute entziehen wollte, paarte. Der Werdegang der Melanippe reichte also von Kronos, über Chiron bis zum Geliebten der Hippo, Aiolos, herab, sie wuchs, wie sich am Schicksal der Melanippe nachvollziehen läßt, am Hofe des Aiolos auf. Der Gestaltwandel des Gottes beruhte auf seiner unterschiedlichen Interpretation als Meergott oder aber Flußgott. Die Stiergestalt besaß er als Flußgott, der wie typisch für Acheloos Stierhörner trägt, der Meergott Poseidon äußerte sich als Hippios mit Pferdeprägung in seiner Verbindung zu Demeter, die sich stutengestaltig mit ihm paarte und ihm das Pferd Areion und eine Tochter Despoina gebar (2). Die Getreidegöttin Demeter war die Parhedros des Meergottes und ist uns als pferdegestaltig aus Thelpusa und Phigalia überliefert (Paus. VIII 5, 8; 42, 1ff.). Die Demeter Erinys von Thelpusa wurde auch Demeter Lusia genannt - nach der Reinigung im Flusse Ladon, weil sie gegen ihren Willen von dem Gott vergewaltigt worden war (3). Sie trug vielleicht deshalb eine weiße Gesichtsfarbe zur Schau. Als Melainis war sie nur für die Phigaleer gestaltet gewesen. Sie wird als in einer Höhle wohnend mit Perdekopf beschrieben, hätte Trauerkleidung getragen und wäre nur Mutter der Despoina gewesen. Sie besaß ein hölzernes Xoanon in Phigalia, welches sie auf einem Stein sitzend in menschlicher Gestalt, aber einen Pferdekopf statt des menschlichen Gesichts aufweisend, zeigte. Nur wegen ihrer schwarzen Trauerkleidung wäre sie als Melaina bezeichnet worden.

Sie war als trauernde Mutter gestaltet, die um ihre Tochter Despoina weinte. Als schwarze Demeter entspricht sie am ehesten der Erdgöttin, die für den Bewuchs im Frühjahr verantwortlich ist, aber auch Unterweltsbedeutung besitzt.

Im Mythos begegnet Demeter als Mutter der Persephone von Zeus, einer Tochter, die nur bedingt mit Despoina gleichzusetzen ist. Persephone wird von Hades auf goldenem Pferdegespann entführt, erst nach langem Suchen, währenddessen die Erde verdorrte, fand sie ihre Tochter wieder, nachdem der allsehende Helios ihr den Räuber verraten hatte (4). Die pferdegestaltigen Göttinnen waren Parhedroi des Poseidon Hippios (Paus. VIII 25, 5-10) (5). Die thelpusische Demeter Erinys gebar dem Poseidon das Pferd Areion und wurde im Mythos als Rachegöttin symbolisiert.

Planisphaerium
Abb. 1: Planisphaerium aus Vaticanus, gr. 1087.
Hier nach F. Boll, Sphaera (1903) Taf. I zur S. 92: Codex Vatic. gr. 1087 s. XV, erster Codex dieser Art, der aus den griechischen Handschriften bekannt wurde.

Halbrechts mittig das verstirnte Pferd, nur als Vorderteil gebildet, halblinks davon der ebenfalls nur mit dem Vorderkörper wiedergegebene Stier, dazwischen Widder und Fische. Das halbierte Pferd steht genau über dem Wassermann rechts außen. Am ehesten als Horoskopbild zu deuten. Das Pferd als Tier der Dodekaoros und hier dem Wassermann zugehörig läßt auf ein Interregnum im Kreislauf des Sonnensystems schließen, und zwar auf eine Gegenrichtung im Uhrzeigersinn. Das halbe Pferd und der halbe Stier kennzeichnen die Veränderung, sie werden in vertauschten Rollen sichtbar, nämlich der Stier in der Umkehrrichtung, analog dazu das Pferd. In seiner Eigenschaft als Stiergott äußert sich Poseidon Hippios als Quellroß nach der Gegenseite, d.h. nach der Erneuerung einer bestehenden Ordnung.


 

Ihre Priesterinnen hießen πῶλοι, wir begegnen hier dem Begriff des jungen Pferdes, man könnte mit dieser Ausdrucksweise eine erzieherische Komponente der Demeter erwarten. Der theriomorphe Gottesbegriff ist stets Äußerung einer astralen Vorstellungswelt, in welcher sich Unsterblichkeit und Verklärung ausdrückt. Mit der Tiermaske identifizierte sich der Priester oder die Priesterin mit ihrem Gott. Als Pferdeprotome ausgeführt auf dem Codex Vaticanus, gr. 1087 (Abb. 1), - sowohl für Poseidon als auch für seine analoge Gestaltwerdung im Mythos anzuwenden.

Auch Chiron wäre unsterblich gewesen, weil mit seiner Zwittergestalt eine Verbindung zum Göttlichen ausgedrückt ist, deutlich am Sternbild des Kentauren (oder Schützen) und an den Heilwundern aus magischer Kraft, die ihn mit Asklepios verknüpften. Von Chiron wird behauptet, daß er seine Heilkunst auf die Gegner von Delphi konzentriert habe, die bei ihm Zuflucht suchten (6). Deshalb wurde auch Hippolytos zu ihm in Verbindung gesetzt, damit er ihn unsterblich mache, nachdem er von seiner Stiefmutter Phaidra aus ungestillter Liebe in den Tod getrieben worden war. Als Fuhrmann ist er deshalb unter die Sterne aufgenommen worden. Chiron war ebenfalls Erzieher namhafter Helden, wie des Argoschiffers Iason oder des mutigen Kämpfers Achilleus.

Die Tochter des Chiron von einer Okeanide war Hippo, die nicht vorgefaßt als pferdegestaltig und hellhäutig anzusehen ist, sie flüchtete sich, als sie unverheiratet von Aiolos schwanger war, in die Einsamkeit und wurde auf ihr Gebet hin - aus Angst vor ihrem Vater - in ein Pferd verwandelt und als solches an den Himmel versetzt (7). Aiolos war, wie wir aus Euripides wissen, aus seinen Fragmenten zur Melanippe (ἡ σοφή), ein Sohn des Hellen und Enkelsohn des Deukalion und gehörte damit zur Gründungslegende von Dodona.

Der Geliebte der Hippo, von dem sie schwanger war und dem sie die Melanippe, also schwarze Stute, gebar, müßte aber sein Herrschaftsgebiet vom Epirus weg nach dem östlichen Thessalien bzw. dem Magnetenlande verlegt haben, weil Hippo als Tochter des Chiron in der Nähe des Pelion aufwuchs. Aiolos bedeutet dem Namen nach Eponymos der Aioler, der seine Einflußzone aber weiter nach dem Osten ausgedehnt zu haben schien. Dort ansässig geworden sein könnte er allerdings erst nach dem Zuzug der Achäer, durch welche die aiolische Macht zum Scheitern verurteilt war. Als Flüchtling aus dem Epirus könnte unser Aiolos II deshalb am ehesten charakterisiert werden.

Euripides verfaßte zwei Dramen über jenes Findelkind Melanippe, nämlich Μελανίππη ἡ σοφή, deren Schauplatz Thessalien ist, und die Μελανίππη ἡ δεσμῶτις, dessen Schauplatz sich aber nunmehr nach Unteritalien, an den Hof des Königs Metapontos, verlagert hat. Im ersten Stück wird der Vater Aiolos zurückerwartet, Melanippe, in ihrem Schicksal dem ihrer Mutter ähnlich, hat ihre von Poseidon gezeugten Zwillingssöhne vor ihrem Vater verheimlicht und ausgesetzt. Die von Hirten aufgefundenen Kinder galten als Unglücksboten und terata, sie sollten deshalb verbrannt werden. Darauf mußte sich die Mutter zu erkennen geben und wurde samt den Kindern von der verstirnten Hippo gerettet (8). Die beiden Kinder, Boiotos und Aiolos benannt, traten damit in eine herrscherliche Lebenssphäre ein, denn sie kamen als Findelkinder an den Hof des Königs Metapontos (Hyg. fab. 186. 252).

Bei Euripides hieß der zeugende Vater Poseidon, nach dem Schol. Hom. Od. X 2 hieß er Hippotes, nämlich Vater des Windgottes Aiolos. Ebenfalls bei Euripides wird als Vater der Melanippe ein Aiolos, Sohn des Hellen, genannt. Ersterer Aiolos aber erscheint in der Sage eher als unwirklich und wie ein Relikt aus nur noch erahnter Vergangenheit. Während der Eponymos der Aioler und Sohn des Hellen als Vater namhafter Söhne, wie Sisyphos, Athamas, Kretheus, Salmoneus etc., eine historische Funktion bekommt. Aber als Ahnherr eines mächtigen Geschlechtes - wir nennen ihn hier Aiolos I - könnte er nicht gut im östlichen Thessalien oder Magnesia zu finden sein, weil sich darin mehr als eine Generation später Machtkämpfe um die Söhne des Kretheus mit der Tyro entfacht hatten, wobei Aison als Sohn des Kretheus den Chiron mit der Erziehung des Iason beauftragt hatte. Usener (9) stellte drei Heroen mit dem Namen Aiolos zusammen: 1) Sohn des Hellen, 2) Sohn des Hippotes und der Melanippe (Aiolos II) und 3) Sohn des Poseidon und der Arne (Arne als Verwechslung der Melanippe aufzufassen - wohl spez. auf Boiotos bezogen, die Stadt Arne bei Hom. Il. II 507 am Kopaissee zu lokalisieren). Als Sohn des Hellen wurde er von Usener ausgesondert, da er bloß eine historische Konstruktion herauslas. Und doch weist er als Nachfahre des Deukalion auf eine Anknüpfung an älteste religiöse Auseinandersetzungen vor der Deukalionischen Flut hin (10). Als Sohn des Hippotes und der Melanippe bzw. als Sohn des Poseidon und der Arne käme nur Aiolos III in Frage, weil der zeugende Vater der Melanippe (Aiolos II) aus zeitlichen und örtlichen Gründen nicht mit unserem Aiolos I identifiziert werden kann. Aiolos III wäre danach ein Enkelsohn des Aiolos II, aber mit dem Sohn des Hellen (Aiolos I) zu identifizieren. Eine Unsicherheit besteht allerdings bei der Gleichsetzung von Hippotes mit Poseidon und Melanippe mit Arne. Mit Hippotes haben wir nach Homer einen Sohn des Poseidon vor uns (Trag. frg. 86: FHG III 306) (11), und Arne als Tochter des Aiolos und Mutter des Boiotos wurde wohl im Hinblick auf die thessalische Aiolis mit der Stadt Kierion (=Arne) so benannt (12).

Mit der geographischen Lage dieser Stadt in der Thessaliotis läßt sich wahrscheinlich jene Gegend lokalisieren, in welcher sich unser Aiolos II mit seiner Geliebten Hippo zusammenfand. Erst nachdem sie Melanippe zur Welt gebracht hatte, erlangte sie mit ihrer Verstirnung die Stutengestalt im Sinne einer Unsterblichkeits-werdung innerhalb der Poseidonreligion. Melanippe verkörperte damit die Despoina der Demeter, aber auf der menschlichen Ebene. Als Demeter von Poseidon geschwängert wurde, färbte sich das reinigende Wasser der Styxquelle schwarz. Diese Sage der Pheneaten, die sich auf die thelpusische Demeter bezogen haben wird, macht deutlich, daß sie über ihre Verbindung zur Poseidonreligion an den Quellen der Unterwelt ihre schwarze Farbe ablegte, sie also zur Parhedros des Poseidon wurde und als solche weißhäutig vorzustellen ist. Aiolos II dagegen, der Geliebte der Hippo, also weißen Stute, müßte demnach dunkelhäutig und vielleicht negroid aufzufassen sein. Mit dem Ergebnis der Paarung erhalten wir für Melanippe eine Erneuerung der dunkelhäutigen, ägyptisch orientierten Priesterschaft von Dodona (13) innerhalb der Poseidonreligion. Aus der Herkunftsangabe der Hippo läßt sich ferner ableiten, daß ihr durch Chiron eine barbarische Komponente beigelegt wurde. Dem Geschlecht der Kentauren haftete etwas Urtümliches und Elementares an, das wir uns als kulturell unadäquat zum Hellenentum, also primitiv geblieben, vorstellen müssen. Mit barbarisch werden Feinde charakterisiert, und damit am ehesten die Thraker zu verstehen sein. Auch in der Sage um die weißhäutige Tyro, die von Poseidon mit den Zwillingen Pelias (der Schwärzliche, was sich jedoch auf eine Verletzung durch den Huf eines Pferdes bezogen haben soll) und Neleus (der Grausame) schwanger wurde, hat sich ein ähnlicher politischer Hintergrund aufgetan, nur daß in diesem Fall Tyro den Poseidon in Gestalt des Enipeus liebte und dem Kretheus in die Ehe gegeben wurde. Da Tyro ihre Kinder in einer Pferdeherde aussetzte und nicht zu ehelichen Geburten erklärte, ist anzunehmen, daß sie diese vor ihrer Eheschließung geboren hatte, und zwar in Elis, weil sie als Tochter des Salmoneus dort ansässig war (14). Auch über das Schicksal der Tyro sind zwei Tragödien verfaßt worden, in diesem Fall von Sophokles (15). Und bei Diod. IV 68 findet zur Genealogie der Tyro ebenfalls ein Aiolos Erwähnung, welcher ein Sohn des Hellen gewesen wäre und von Deukalion abstammte, nämlich als Vater des Salmoneus etc., welcher nach den Erzählungen der Melanippe aber eben jener Aiolos I gewesen sein müßte, der damit aber nicht gleichzeitig als Geliebter der Hippo verantwortlich gewesen sein kann für das Werden der Melanippe. Damit kämen wir nämlich mit der internen Chronologie dahin, Melanippe in die Generation des Salmoneus setzen zu müssen, was unmöglich angehen kann, weil die Flucht aus dem zerstörten Pylos, als die Söhne des Neleus und der Chloris alle bis auf Nestor hingemordet waren, für die Gründung von Metapontum, dem Schauplatz der Μελανίππη ἡ δεσμῶτις, vorausgesetzt werden muß (16). Im Falle der Melanippe käme also bloß unser Aiolos II als zeugender Vater in Frage, als ihr Sohn dagegen stünde nur noch Aiolos III zur Verfügung, als Sohn eines Hippotes bezeichnete man aber jenen Verwalter der Winde, auf umwehrter Insel glückselig wohnend, was unserer Genealogie nach nur auf Aiolos III zutreffen kann, da er als einziger völlig isoliert und außerhalb der Deukaliongenealogie aufscheint (17). Weil mit Hippotes am ehesten nach Usener (vgl. unsere Anm. 8) Poseidon gemeint ist, hätten wir mit jenem Aiolos II den Vater der Melanippe isoliert und als Poseidon-Hippotes den Vater des Aiolos III und des Boiotos. Für Hippo und ihren Geliebten Aiolos II müssen wir ein Fluchtgeschehen voraussetzen, das eine Erneuerung der Aiolidendynastie in die Wege leiten sollte (18). Es löste die Expansion der Aioler unter der Zuhilfenahme von thrakischen Stämmen aus, also eine Rückeroberung aiolischer Gebiete und damit einen Neuanfang (19). Alles, was von dieser Zielrichtung blieb, war eine neuerliche Flucht über das Ionische Meer, symbolisch ausgedrückt durch die Einheirat der Melanippe in das Königshaus des Metapontos.

 
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