UDO REINHARDT  

2. Die Laokoongruppe in der neueren Malerei und Graphik

Zu den konventionellen Bildentwürfen gehört die Zeichnung Laocoonte (1938/40)20 des bedeutendsten italienischen Malers der Moderne, Giorgio de Chirico, der im Rahmen seiner Rückwendung zur europäischen Kunsttradition, speziell von Renaissance, Manierismus und Barock, den schönen Kopf des leidenden Helden weitgehend originalgetreu kopierte. - Ein anderer 'Klassiker der Moderne', der fast ebenso häufig Zitate der antiken und neueren Kunsttradition bietet, der exzentrische Spanier Salvador Dalí, kopierte in einem recht abgeschmackten Spätwerk mit dem kuriosen, typisch surrealistischen Titel Laocoon tourmenté par les mouches (1965) (21) die obere Hälfte der Hauptfigur als grauen Akt mit erhobenem rechtem Arm und goldfarbenen Schlangen vor silbermetallisch schimmerndem Hintergrund unter einem dunklen Gewölbebogen am unteren Ende einer großen, teils in gedeckten Farben, teils in aufdringliche rem Gelb-Ocker gehaltenen Architekturkulisse.

Besonderes Interesse verdienen zwei österreichische Künstler der 'Wiener Schule des phantastischen Realismus'. Das Gemälde Großer Laokoon (1963-67; Abb.2) (22) von Rudolf Hausner (1914-95), nach eigener Angabe durch die überwältigenden Eindrücke bei seinem ersten Flug angeregt, (23) beschäftigte den Maler vier Jahre lang. In ihm ordnet er mit fast photographisch genauem Kopieren den unglücklichen Leidensmann zusammen mit seinen beiden Söhnen als grünlich schimmernde Marmorgruppe in ein Rundoval ein, das, fast das ganze Farbspektrum umfassend, ebenso an ein menschliches Auge bzw. den Linsenverschluß einer Kamera erinnert wie mit den regelmäßigen glatten hellen Flugzeug-Oberflächensegmenten an ein modernes Raumschiff.

Hausner Abb. 2: Rudolf Hausner, Großer Laokoon

In diesem ganz surrealen Rahmen löst sich die kompositionelle Geschlossenheit des Vorbilds in zentrifugaler Bewegung auf: (24) der rechte Sohn tendiert zur einen, Vater und linker Sohn zur anderen Seite; dabei ragen der ausgereckte rechte Arm des Vaters und die ausgestreckte rechte Hand des Sohnes links bis in die Schwärze des Raumes, der sich im Hintergrund von schwarzbläulichem Dunkel oben mit fließenden Übergängen durch eine blaue, grüne und gelbe Zone bis in das intensive Himmelsrot vor Sonnenaufgang bzw. nach Sonnenuntergang entwickelt. Unten, etwas über dem Horizont, stehen gespenstisch spinnwebenartige Umrisse von Installationen moderner Weltraum- und Satellitentechnik. (25)

In seinem ausführlichen Bildkommentar geht Hausner konkret von der durch die Gruppe dargestellten mythischen Situation aus; sein besonderes Interesse gilt der Zentralfigur: "Ein Mann war dagegen: Laokoon. Im Gegensatz zur allgemeinen Begeisterung schien er nüchtern, wachsam, eher mißtrauisch zu sein, wodurch er sofort eine politische Diskussion herausforderte, die unausweichlich ihrem Höhepunkt zueilte, an dem nicht mehr die menschliche Vernunft entscheidet, sondern die "Götter" ... Ein merkwürdiger Mensch, dieser Laokoon: Er erkennt in einer kritischen Situation die Wahrheit und hat auch den Mut, sie zu bekennen - für konformistische Suggestionen ist er unempfindlich -, politische Begeisterung macht ihn mißtrauisch, und gegen den Eingriff der Götter wehrt er sich verzweifelt." (26) Das unmittelbare elementare Berührtsein des Künstlers durch den Mythos, das höchstens de m im Zusammenhang mit seinem Bild Die Arche des Odysseus (1948-56) vergleichbar ist, (27) spricht aus der Zusammenfassung: "Mit dem Malen verstand ich unser aller trojanische Situation, die darin besteht, daß wir an ein hypertrophes technisches Instrumentarium gefesselt sind, das uns einerseits unentbehrlich geworden ist und andererseits unsere Vernichtung in latenter Bereitschaft hält. Vor jenem Flug nach Paris hat mich Laokoon kaum interessiert, dann aber, nachdem mich diese gewöhnliche Geschäftsreise über 'Damaskus' führte, konnte ich kaum mehr von ihm loskommen. Laokoon bedeutet eine Warnung und gleichzeitig eine Aufforderung zur Humanisierung der Technik. Ich empfehle uns allen mehr laokoontisches Bewußtsein." (28) Man möchte manchem Fachwissenschaftler nur halb soviel Betroffenheit bei seiner Beschäftigung mit der Antike und ihrer Rezeption wünschen.

Hausners weitere Entwürfe übernehmen diese Grundkonzeption, doch variieren das äußere Grundschema von Gruppe, Rundoval und Himmelsraum farblich und in gewissen Details. Der Vorentwurf Kleiner Laokoon I (1964) (29) läßt die Gruppe unverzerrt im Zentrum des weniger elliptischen 'Raumschiffs' und hebt die aus der roten Himmelsglut am unteren Bildrand in die gelbe Zone hineinragenden Installationen stärker hervor. Das Gemälde Kleiner Laokoon II (1967) (30) steigert das Hochformat, wodurch die Installationen noch höher ins Bild hineinragen; die ebenfalls geschlossene Gruppe steht mitten in einem Rundoval, das einem Auge ganz nahe kommt; die fast identische Variante Kleiner Laokoon III (1968) (31) reduziert die Zahl der emporragenden Installationen geringfügig. Das Gemälde Adam wartet auf Flugkapitän Laokoon (1968), (32) fast wieder im Format des Vorentwurfs, beschränkt sich im Rundoval auf Blau, Grün und Gelb, während von unten im Vordergrund ein rötlich-schwarzer, im Umriss leicht verzerrter Kopf mit Hausners eigener Physiognomie in die rote und gelbe Zone des Hintergrunds hineinragt - unmittelbare Verbindung von Künstler und Thema.

Der ebenfalls großformatige Entwurf Laokoon in der Umlaufbahn stellte in der ersten Fassung (1969) (33) die geschlossene Gruppe originalgetreu ins Zentrum eines Rundovals mit vollem Farbspektrum, während unten eine schmale schwärzliche Basiszone und darüber eine ebenso schmale rote Zone die Krümmung der Erdoberfläche wiedergab. Dieses fast unveränderte Bildganze ist in der Endfassung (1976) (34) ergänzt um eine Astronautengruppe, die sich, durch ein verwirrendes Geflecht dünner Versorgungsschläuche mit dem 'Raumschiff' darüber verbunden, in der Weite des Raumes fast verliert, in ihrer Grundstruktur der Dreiergruppe des Originals entsprechend. - Witzige Rezeption dieser Variante: die Zeichnung Laokoongruppe (1975) von István Lehoczki (geb.1950) (35) reduziert - der Originalstruktur gemäß - auf eine Gruppe von drei Astronauten, die mit langen, schlangenartigen Versorgungsschläuchen an ihr Raumschiff (hier säul enartig schmal in der unteren rechten Bildecke) angekoppelt sind.

Ganz anders, als bewußt provokative Gegenästhetik, stilisiert der Wiener Eklektiker Ernst Fuchs (geb.1930) seinen frühen Entwurf Der Antilaokoon (1965; Abb.3); (36) dabei gestaltet er auf den Spuren von William Blake und der Kunst des fin-de-siècle (Gustave Moreau) das Thema als synkretistisches Ensemble mit unterschiedlichen kulturellen Einzelbestandteilen. Der mythische Stoff, realisiert durch das antike Kunstwerk, wird verbunden einerseits mit jüdisch-biblischen Details (Moses und die Schlange, nach 2.Mose 4; entsprechend die Physiognomie des Helden mit dem mosaischen Hörnchen auf der Stirn, über der zwei farbige hebräische Buchstaben aus dem in Grau gehaltenen Untergrund heraustreten), andererseits mit christlichen Elementen (der Held erscheint mit dem Herz-Jesu-Symbol oben auf der Brust; das Ambiente erinnert an ein mittelalterliches Höllen-Pandämonium, z.B. die eidechsenartigen Wesen übe rall auf den Schlangenwindungen). K ompositionell ordnet Fuchs der skeletthaft verzerrten Hauptfigur, die gegenüber dem Original in die Profilansicht übertragen und stark in den Vordergrund gerückt wird, nun anstelle der Söhne zwei Frauen (Typ Kallipygos) als im Hintergrund von den Schlangenwindungen weitgehend verdeckte Randfiguren annähernd bilateral-symmetrisch bei. Oben im Bild dominiert die starre Horizontale der überlangen Oberarme, mit denen Laokoon die Schlangendämonen nach oben bzw. unten stemmt; unmittelbar vor seinem Schädel und dem vor Anstrengung und Schmerz verzerrten Gesicht züngelt ein Vipernkopf, darüber in mäßiger Distanz ein dekorativer Drachenkopf. In der unteren Bildhälfte beeindruckt zwischen den überlangen Beinen und Oberschenkeln des Helden die immense horizontale Windung der Riesenschlange, auf die zwei adlerartige Vögel am linken und rechten Bildrand mit spitzen Schnäbeln und Krallen einhacken.

Die ganze Exzentrik des Entwurfs erscheint in Fuchs` eigenem Bildkommentar: "Der Kampf gegen das Monstrum oder die Überwindung des Todes durch die Prophetie. Die grotesk manieristische Bewältigung des Monströsen im Fetisch und im Götzen. Ich selbst betrachte diese Arbeitsweise als Neo-Manierismus, bei dem ich die Formen der europäischen und der vorderasiatischen Kunst auferstehen lasse, gehe ich über die manieristische Formengebung von Michelangelo und Giulio Romano hinaus." (37) Die ungeordnete syntaktische Struktur dieser Sätze entspricht dem chaotischen Gesamteindruck des Bildes: das Ganze wirkt in seiner ausgeprägten Disproportionalität ungemein skurril, überspannt, genialisch, esoterisch und - wie meist bei Fuchs - scheußlich interessant.

Fuchs
Abb. 3: Ernst Fuchs, Der Antilaokoon
Lassnig
Abb. 4: Maria Lassnig, Weiblicher Laokoon

Die Wirkung liegt sowohl in der äußerlichen Verbindung des Antikenzitats 'Laokoongruppe' mit disparaten Zusatzelementen wie auch in neuen Inhalten: der in seiner gespenstisch zerrissenen Erscheinungsform ganz unheldische Held erscheint als Hauptfigur einer geradezu kosmischen Auseinandersetzung zwischen Mächten des Guten (Laokoon/Adler) und des Bösen (Schlangen/Eidechsen), in dem die Ausgewogenheit der originalen Dreiergruppe (auch wegen der Transformation der Söhne zu Frauen) kaum noch eine Rolle spielt, ebenso wenig wie der zugrundeliegende Mythos.

Eine weitere österreichische Künstlerin, Maria Lassnig (geb.1919), reduziert in ihrem Gemälde Weiblicher Laokoon (1976/ Biennale Venezia 1980; Abb.4) (38) das Vorbild auf die Hauptgestalt, mit der Pointe, daß nun nicht mehr der nackte Hauptakteur in seiner männlich kraftvollen Erscheinung dargestellt ist, sondern eine gänzlich unbekleidete Frau mit leicht pyknischem Körperbau und kraftlos schlaffer Aktion. Ihr vergeblicher Kampf mit der dunklen Schlange wird deutlich in den ohne Verbindung zu den Oberarmen agierenden Unterarmen und in dem in den Nacken zurückgenommenen Greisinnengesicht, aus dem Anstrengung, Erschöpfung und Resignation sprechen. Das vertraute Bildschema wird durch Übertragung Laokoons in ein feminines Pendant verfremdet - ein bei mythischen Themen in der Bildenden Kunst der Moderne häufiger vorkommender Gag. (39) Hier allerdings kommt zur Transfor mation des Geschlechts die Metamorphose vom Virilen zum Senilen; daß diese neue Konzeption gerade von einer bejahrten Künstlerin realisiert wird, legt sehr persönliche Motive nahe: vielleicht die Absicht, die verzweifelte Rolle der Frau in dieser Welt zu dokumentieren; vielleicht auch das Bewußtsein nachlassender Kreativität im Ringen um neuschöpferische Lösungen mit einer übermächtigen Tradition - ein Grundproblem der modernen Kunst.

Gegenüber solchen Bildern erscheinen die neuesten Entwürfe aus den letzten zwei Jahrzehnten eher als postmoderne Spielereien mit dem alten Thema in Gestalt der bedeutenden Gruppe. Fabrizio Clerici (1913-94), italienischer Maler und Graphiker zwischen surrealismo und neoclassicismomit oft auffallend intelligenten Entwürfen (auch zu mythologischen Themen), stellt in seinem Gemälde Luce di Lessing (1980) (40) die Gruppe als Sperrholzausschnitt gleich zweimal in ein rätselhaftes 'metaphysisches' Interieur, rechts als Ganzes nahe einer hellen Türöffnung in gedämpftem Licht, links als Teilgruppe in einer dunklen Türöffnung in etwas hellerem Licht; der Bildtitel verweist auf Lessings programmatische Schrift Laokoon. - Sein Landsmann, der Pop-art-Künstler Valerio Adami (geb.1934), verblüfft mit einem grellfarbigen, noch rätselhafteren Interieur-Ensemble unter dem bizarren Titel Stalin e Laocoonte (1979/80). (41) - Der vor kurzem v erstorbene deutsche Graphiker Horst Janssen (geb.1929) behandelt in seiner Radierung Laokoon (1986) (42) das Thema mit gewohnter technischer Perfektion in gedeckten Brauntönen ohne klar erkennbare Strukturparallelen zur Originalgruppe, desgleichen der deutsche Maler Erich Schickling (geb.1924) in einem figurenreichen, verwirrend farbigen Gemälde gleichen Titels (1991), (43) das höchstens in der Mittelgruppe eine gewisse Entsprechung bietet.

Der Ex-DDR-Künstler Lutz Dammbeck (geb.1948) zitiert schließlich die berühmte Gruppe im Rahmen seines im Lindenau-Museum Altenburg realisierten Projekts Herakles-Konzept (1997; Entwürfe 1987) in zwei Assemblagen (Herakles-Notizen), einmal mit antifaschistischer Tendenz als Foto-Ausschnitt, der anstelle Laokoons einen sechseckigen Stern mit dem Hakenkreuz im Zentrum zeigt, (44) einmal in einer Foto-Montage auf Kopf und ausgestreckten rechten Arm der Hauptfigur (als Leidensmann) beschränkt; (45) als Pendant fungiert in diesem Fall eine zweite Assemblage mit dem triumphierend auf dem apokalyptischen Drachen stehenden Christus.

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