UDO REINHARDT  
Das letzte von Laokoon
Die neueste Rezeption in Kunst, Karikatur und Werbung

Wenn ein Klassischer Philologe (Schwerpunkt: Gesamttradition des antiken Mythos) (1) mit einiger Affinität zur Archäologie dem Nachfolger seines Lehrers Frank Brommer zum 60. Geburtstag einen schon vom Titel her nicht ganz ernsthaften Beitrag für eine eben solche Festschrift dedizieren möchte, bleiben bei einem Gelehrten (und Freund), der sich immer wieder mit späthellenistischer Bildhauerkunst beschäftigt hat, nicht allzu viele Möglichkeiten, (ohne) sich zu blamieren. So bezieht sich dieser Beitrag auf ein Werk, das heute mit dem Zeus von Artemision, der Nike von Samothrake und der Venus von Milo zu den bekanntesten Objekten der antiken Kunst gehört, was die neuere Tradition betrifft, höchstens mit Botticellis Nascita di Venere, Leonardos Mona Lisa oder Manets Déjeuner sur l`herbe, Michelangelos Davide, Cellinis Perseo und Rodins Penseur vergleichbar.

Die im Original wohl späthellenistische, in der Mitte des 1. Jahrhunderts von den rhodischen Bildhauern Hagesandros, Polydoros und Athenodoros geschaffene Laokoongruppe (2) wird in der Naturalis historia des älteren Plinius als bedeutendstes Kunstwerk der Antike bezeichnet (36,37): (3) ...sicut in Laocoonte, qui est in Titi imperatoris domo, opus omnibus et picturae et statuariae artis praeferendum. Die Marmorskulptur wählt als 'fruchtbaren Augenblick' eine Situation aus dem Kontext der Iliupersis, die literarisch im Anschluß an verlorene frühgriechische Epen in Vergils Aeneis (2,201ff.) behandelt ist: wie der trojanische Priester Laokoon zusammen mit seinen Söhnen von zwei riesigen Seeschlangen, die der Gott Poseidon von der Insel Tenedos her übers Meer schickte, beim Opfer am Strand überwältigt und getötet wird - für die zuschauenden Trojaner der letzte Anstoß, entgegen seiner Warnung doch das Hölzerne Pferd in die Stadt hineinzuziehen - der Anfang vom Ende Trojas.

Seit die Gruppe am 14. Januar 1506 wieder aufgefunden wurde (eine Sensation für die Zeitgenossen, z.B. Bramante und Michelangelo), (4) blieb sie (nicht zuletzt durch zahlreiche Kopien von Bandinelli und Primaticcio bis Bernini, Soldani und Tuby) ein Hauptwerk der europäischen Kunsttradition. (5) Wenn auch ihre hysterische Verehrung im 16. Jahrhundert den großen Tizian reizte, in karikierender Umgestaltung des Meisterwerks den unglücklichen Vater mit seinen Söhnen unter dem Titel Affenlaokoon als Primatenfamilie darzustellen (c.1545/50): (6) das chef d` oeuvre wirkte dank seinem faszinierenden Pathos vor allem in Manierismus und Barock stilprägend. Gleichermaßen behauptete es sich neben seinem klassizistischen Pendant, dem Apoll von Belvedere, im Frühklassizismus, bis hin zu Winckelmann, der in ihm ein Muster "idealischer Schönheit" sah, (7) und bis zu Lessings wirkungsreicher theoretischer Schrift (1766). Und auch in neuester Zeit hat die Gruppe immer wieder Künstler, Literaten, (8) Archäologen und Kunstgeschichtler in ihren Bann gezogen; ihre Rezeption bis in die Gegenwart ist ungewöhnlich vital und vielfältig.

Die neueste Entwicklungsphase der Bildenden Kunst wird traditionell unter dem fragwürdigen Sammelbegriff 'Postmoderne' zusammengefaßt, der gegenüber der vorangehenden 'Moderne' eine Rückwendung zur älteren Kunsttradition bezeichnet, entweder stilistisch als Neo-Manierismus (so Gustav René Hocke) oder ganz allgemein als Vorliebe für Zitat und zitierende Variation. Beide Tendenzen fördern die Nachwirkung der Laokoongruppe als Kunstwerk entschieden, sowohl in der Bildenden Kunst allgemein wie auch in den 'neuen' Gattungen, speziell Karikatur und Werbung. Hingegen spielen literarische Voraussetzungen, insbesondere transzendenter Hintergrund (Einwirkung von Göttern und Schicksal) und narrative Details, kaum noch eine Rolle. Spätestens seit dem europäischen Symbolismus (2.Hälfte 19.Jh.) und seiner Neigung, Mythen auf ihren Kern ('Symbol') zu reduzieren, ist Laokoon, wenn überhaupt noch über das Zitat hinaus wahrgenommen, Prototyp des unverschuldet Leidenden und unter schrecklichen Qualen Sterbenden; entsprechend auch die Konzentration auf die Hauptfigur (oft ohne Darstellung der Söhne); beide Trends finden sich vor allem in den Belegen aus traditionellen Gattungen der Bildenden Kunst.

1. Die Laokoongruppe in der neueren Plastik und Skulptur (incl. Installationen u.ä.)

Das berühmte Vorbild reizte einige moderne Bildhauer zu ernsthafter Auseinandersetzung, gerade auch seitens der Avantgarde. So gestaltete einer der 'Klassiker der Moderne', der in Frankreich tätige Russe Ossip Zadkine, zunächst seine Bronzegruppe Laocoon (1930), (9) die nach dem Kompositionsprinzip 'Auflösung der kompakten Form' ein Gewirr von Leibern, Armen und Schlangen mit einer steil zum Himmel erhobenen Hand aufweist. Nach dem zweiten Weltkrieg behandelte Zadkine das Thema erneut in seiner Bronzestatue La ville détruite (1946-53; Abb. 1). (10)

Zadkine Abb. 1: Zadkine, La ville détruite

Das Mahnmal für die Zerstörung Rotterdams durch das Bombardement der deutschen Luftwaffe 1940, ikonographisch auch durch eine Zeichnung des Auferstandenen Christus von Michelangelo (c.1534) beeinflußt, (11) reduziert auf die riesige massive Einzelstatue, die mit eingeknickten Beinen, aufrechtem, von einer tiefen Wunde aufgerissenem Oberkörper, in den Nacken gelegtem Kopf und zum Himmel erhobenen, überlangen, seltsam verdrehten Armen die Pathosgeste des leidenden Laokoon variiert. Das bedeutende Werk, eine überzeugende Synthese von kubistischen und expressionistischen Elementen, ist aufgrund der Bewußtheit, Sensibilität und Intensität, mit der die Qualen einer geschundenen Kreatur dargestellt werden, die ihren ganzen Schmerz über Verwundung und Vernichtung anklagend gen Himmel schreit, vom künstlerischen Ethos her durchaus mit späteren Werken des österreichischen Bildhauers Alfred Hrdlicka vergleichbar.

Gegenüber diesem monumentalen Entwurf sind die übrigen Belege z.T. eher 'Leichtgewichte'. Die in den Gestaltungsmitteln ähnlich reduzierte Bronzestatue Laokoon des Griechen Achilles Apergis (12) realisiert den alten Stoff in knappen, durchsichtigen Umrißlinien, in der Gesamterscheinung eher kompakt, beschränkt auf den Helden und die ihn umschlingenden Schlangen. - Ein wichtiger Vertreter der Avantgarde, der Italo-Amerikaner Eduardo Paolozzi, trägt ganz unterschiedlich zum Thema bei. Ein graphischer Entwurf, die eigenartige Collage Laocoon (1961), (13) bietet einen an Betriebsanleitungen erinnernden Blick in das Innere eines Autos, durch dessen Windschutzscheibe als verfremdendes Kontrastprogramm die obere Hälfte der berühmten Gruppe zu sehen ist. Die mechanistische Aluminiumplastik Towards a new Laocoon (1963) (14) entspricht im dampfmaschinenartigen Aufbau Paolozzis spezifischem, oft auf technische Modernismen ausgerichteten Spätstil.

Entfernt an Paolozzis Objektkunst erinnert auch der Ex-DDR-Künstler Georg Herold (geb.1947) mit seiner Installation Laokoon (1984), (15) auf deren massiver Basis, die aus zwei langen vertikalen und zwei kurzen horizontalen Stahlträgern besteht, ein alltäglicher Haushalt-Staubsauger steht, dessen ockerfarbene Schläuche die Vorstellung von Schlangen assoziieren. Als akustische Ergänzung bot ein Kassettenrecorder mit einer Drei-Minuten-Endlosschleife Hitlers Rede über 'Entartete Kunst' zur GDKA München 1937 im Originalton und auf sächsisch im Sound des früheren SED-Generalsekretärs Walter Ulbricht - kritische Auseinandersetzung mit zwei totalitären Systemvarianten und ihrer Tendenz, die Freiheit der Kunst mehr oder weniger einzuengen: Leiden an der Gegenwart politischer Vergangenheit.

Die Terrakottagruppe Laokoon II (1986) (16) des österreichischen Bildhauers (und Malers) Siegfried Anzinger (geb. 1953) bietet - einem wesentlichen Trend in der Gegenwartskunst gemäß - eine eher diffuse Auflösung der originalen Dreiergruppe, deutlich zentriert auf die von Schlangen umwundene Hauptfigur, die nun allerdings nicht mehr als Held, sondern in ihrer ganzen Ohnmacht dargestellt ist: "Die pathetische Haltung ist aufgegeben, der Körper unter dem Anprall zerstörerischer Kräfte zerstückelt." (17) - Schließlich zitiert Andreu Alfaro (geb. 1929), spanischer Installationskünstler zwischen bildhauerischem Strukturalismus und italienischer arte povera, Umriß und Grundschema des berühmten Vorbilds in zwei Entwürfen, deren ästhetischer Reiz vor allem in ihrer schlichten Form liegt: in Laocoonte II (1994) (18) mit drei weißen, kantig-linearen Steinskulpturen (Laokoon und Söhne), die von dunklen Bleirohrwindungen (Schlangen) umgeben sind; in Laocoonte=Caduta degli dei (1995) (19) mit einer einheitlich hellbraun gehaltenen Dreiergruppe, die bei schrägem Stand in sich eine rein rechtwinklige, von der Gesamtwirkung hakenkreuzartige Gestaltung aufweist - zwei Musterbeispiele für die im Zeitalter der Postmoderne dominierende Tendenz, in äußerlichen Zitaten auf die frühere Kunsttradition zurückzugreifen.

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