GABRIELE NICK  
Die Artemis von Ephesos: Neues zu einem antiken "Busenwunder"

Eines der bekanntesten Kultbilder Anatoliens, das bis in die Spätantike verehrt wurde, war das der Artemis von Ephesos. Die grundlegende Arbeit zu diesem Götterbild wurde von unserem Jubilar vorgelegt (1). Eingehend hat er dargelegt, wie das alte Kultbild, das nur in zahlreichen hellenistischen und römischen Nachbildungen erhalten ist, aussah. Immer noch ungeklärt ist das Rätsel, das sich um die "eher schlaffe(n) als pralle(n), länglichrunde(n) Gebilde" (2) rankt, die in mehreren Reihen angeordnet um den Oberkörper des Kultbildes hängen. Sie können keine Körperteile sein, sondern gehören zur abnehmbaren Garderobe des Kultbildes, da sie bei einigen Statuen nicht die gleiche Farbtönung wie die Hautpartien aufweisen.

Tripolis Villa Albani
Abb. 1: Artemis Ephesia, Tripolis. E 60 Fleischer Taf. 34. Abb. 2: Artemis Ephesia, Villa Albani Nr. 700. Thiersch Taf. VII.

Die Gebilde lassen sich an den Nachbildungen der Artemis von Ephesos seit der Mitte des 4. Jhs. nachweisen und werden im allgemeinen als Brüste bezeichnet. Dies findet seine Berechtigung nicht nur darin, dass die Gebilde - wie schon aus der trefflichen Beschreibung Robert Fleischers hervorgeht - der weiblichen Brustform sehr ähnlich sehen (3) und auch anatomisch richtig platziert sind, sondern darin, dass schon antike Quellen die Göttin multimammia und mammis mulits et veribus exstructa bzw. πολύμαστος nennen (Min. Felix, Octavius 22, 5; Hieronymus, comm. in ep. Pauli ad Ephes. praef.). Der Einwand, eine Interpretation als weibliche Brüste könne nicht stimmen, da auch männliche, der Artemis von Ephesos verwandte Kultbilder, wie der Zeus Labraundos, diese Brustgehänge trügen (4), gilt nicht, da schon in der Antike bekannt war, dass auch die männliche Brust Milch spenden kann (Aristot. hist. anim. III 20, 522 a 11 ff.). Somit ist es durchaus vorstellbar, dass eine männliche Gottheit, insbesondere im östlichen Raum, der ohnehin eigene Erscheinungsformen in der Götterverehrung aufweist, mit weiblichen Geschlechtsorganen dargestellt wurde. (5)

Kopfzerbrechen bereitet bei der Interpretation der Brustgehänge der Artemis von Ephesos als Brüste im Wesentlichen nur ihre Anzahl, die innerhalb der statuarischen Überlieferung variiert, jedenfalls aber immer die natürliche Anzahl der menschlichen weiblichen Brüste (zwei) bei weitem übertrifft. Würde es sich nur um eine einzige "Brust" handeln, wäre es sicherlich gerechtfertigt, eine Verbindung zu den Amazonen zu ziehen, für die ja die Einbrüstigkeit überliefert ist: Die Amputation einer Brust diente der Erleichterung des Bogenschießens, wie nicht nur antike Quellen berichten (Diod. 2,45,3; 3,53,3; Justin. 2,4,5), sondern worauf auch die Etymologie ἀ - μαζόνες hinweist. In der leider oft allzu aufgeklärten modernen Forschung wird das Zeugnis dieser antiken Quellen meist nicht mehr ernst genommen, zumal die Amazonen in der Bildenden Kunst der Griechen immer zweibrüstig dargestellt werden. Nun widerspricht eine historisch-anatomisch korrekte Wiedergabe der Amazonen-Oberkörper sicherlich dem griechischen Gefühl für Ästhetik und kann deshalb kaum als Argument dafür herangezogen werden, wie dieses kriegerische Volk seine militärische Praxis ausübte. Für den Altertumswissenschaftler hat zudem immer noch, wie in der Textkritik, die lectio difficilior zu gelten.

Einen wenn auch losen Zusammenhang zwischen Amazonenbrüsten und den Gebilden am Oberkörper der Artemis von Ephesos stellte schon E. Lichtenecker her (6). Sie interpretiert die Verstümmelung der Brüste der Amazonen in Analogie zur männlichen Kastration als Fruchtbarkeitszauber. Die Brüste an der Statue seien als Fruchtbarkeitssymbole einer Vegetationsgottheit zu interpretieren. Einen Behang mit künstlichen Brüsten hätten zunächst Teilnehmer bei kultischen Begehungen als Festschmuck getragen. Sodann sei er auf das Kultbild übertragen worden.

Nun scheint es, dass in der Archäologie alles, was augenscheinlich alt und deshalb uns unverständlich ist, wie eben dieser uns seltsam anmutende Brustschmuck der ephesischen Statue, als Fruchtbarkeitskult erklärt wird. Im Falle der Artemis von Ephesos liegen uns aber doch konkrete Hinweise auf die richtige Deutung der Brüste vor: Tatsächlich sind die Amazonen der Schlüssel zum Rätsel. Ihre Bedeutung für das Heiligtum ist ja hinlänglich bekannt: Seine Gründung wird ihnen zugeschrieben (Kall., Hymnus an Artemis; Paus. VII 1,7). Besonders interessant ist die Schilderung des Kallimachos: Die Amazonen errichteten das Kultbild und vollführten den Waffentanz um das Bild. Es liegt auf der Hand, dass die Amazonen die Göttin nicht als Fruchtbarkeitsgottheit verehrten, sondern als Schutzherrin des Kriegshandwerks. Ihr opferten sie - im wahrsten Sinne des Wortes - ihre Weiblichkeit. Als Ersatz für ein erfülltes Leben als Mütter weihten diese Frauen ihre amputierte Brust - Symbol ihrer Weiblichkeit und Mütterlichkeit schlechthin - dieser Göttin. Die Bitte um Sieg im Kampf könnte keinen größeren Nachdruck erfahren. Sicherlich war die Amputation ein Initiationsritus, der den jungen Amazonen erst die Teilnahme am Kampf gestattete. Die Brüste wurden als Votive an das Kultbild geheftet, und zwar an den Oberkörper, wo sie natürlicherweise auch hingehören. Aus Platzmangel (7) brachte man die Brüste in mehreren Reihen an und wich sogar auf die Rückseite aus. Auch die schlaffe Form der Gebilde, die, wie Robert Fleischer konstatiert, außer an Grotesken in der Antike nicht wiedergegeben wird (8), lässt sich leicht dadurch erklären, dass es sich eben um amputierte Körperteile handelt.

Die Weihung der Brüste findet zum einen z. B. Parallelen in Weihungen von Gewändern von Frauen, die gerade entbunden hatten, an Artemis Brauronia, zum anderen in Weihungen von Nachbildungen von Körperteilen an Heilgötter (die Artemis von Ephesos wurde von den frisch operierten Amazonen sicherlich auch in dieser Eigenschaft angebetet).

Dass die Brüste nicht nur primär als Opfergaben zu verstehen sind, sondern sekundär apotropäische Funktion erlangen, beweist eine Parallele aus einem keilschriftlichen Text aus Ugarit (KTU 1.3), nach der Anat, die jungfräuliche Kriegs- und Liebesgöttin, ihre Feinde abschlachtet und deren Köpfe an ihrer Brust (sic) befestigt.

Dieser ursprüngliche, in unseren Augen doch sehr rohe Kult, wurde mit dem Aussterben der Amazonen ritualisiert und damit abgeschwächt: Die Brüste wurden nun in Nachbildungen an das Kultbild geheftet bzw. Teil der abnehmbaren Garderobe. Im Laufe der Zeit wurde die Form schematisiert, so dass schließlich die Darstellung der Brustwarzen weggelassen wurde (9). Leider fehlen uns die entsprechenden frühen Zeugnisse zum Kultbild: eine Untersuchung zum ikonographischen Wandel und zur Typologie der Brüste wäre sicher lohnenswert.

Da nun die Anbringung der Brüste am Oberkörper der Artemis von Ephesos, wie hier nachgewiesen wurde, ursprünglich zu einem wesentlichen Bestandteil des Kultes der Beschützerin der Amazonen gehörte, ja ihre Kultgründung bedingte, ist kaum zu erwarten, dass die späteren Nachbildungen lediglich Teil der Bekleidung waren. Vielmehr waren sie sicherlich weiterhin in einen Kult eingebunden. Ein ähnlicher Wandel im Kult ist uns ja bekanntlich für die Artemis Orthia überliefert (Paus. III, 16, 10): Während die Priesterin neben dem Altar das Kultbild hält, werden schöne Jünglinge als Ersatz für ein ursprüngliches Menschenopfer ausgepeitscht. Wenn aus Mitleid mit einem schönen Knaben nicht hart genug geschlagen wurde, wurde das Bild in den Händen der Priesterin sehr schwer. Es ist überzeugend nachgewiesen, dass der Kult ursprünglich nicht auf ein Menschenopfer zurückgeht, sondern einen rituellen Käseraub ablöste (10). Während in Sparta ein "harmloserer" Kult in einen blutigen umgewandelt wurde, verhielt es sich in Ephesos umgekehrt. Einen Hinweis auf die kultische Funktion der Brustnachbildungen findet man in keilschriftlichen Texten: Das Akkadogramm "bibru" ("Hals") bezeichnet in Verbindung mit einem Tiernamen ein Tiergefäß (11). Aus einem Bibru tranken der König oder das Königspaar. Danach spendete der König der Gottheit ein Trankopfer aus diesem Gefäß. "Bibru" kann aber auch mit einem Körperteil verbunden werden, so tritt es im Zusammenhang mit "weiblicher Brust" auf und bezeichnet offenbar ein Gefäß dieser Form (12).

Offenbar fand - wahrscheinlich bei der jährlichen Waschung und Neubekleidung des Kultbildes der Artemis Ephesia - ein Trankopfer statt, bei dem einmalig diese rituellen Gefäße Benutzung fanden, um anschließend als kostbare Opfergabe wiederum an die Brust des Kultbildes gehängt zu werden.

Ein Rätsel der antiken Religionswissenschaft scheint gelöst. Man kann mit Spannung weitergehende Forschungen, die auf diesen Ergebnissen aufbauen, erwarten.

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