PETER HERZ  
Caligula und die Muscheln *

Es gibt wohl wenige Nachrichten aus der römischen Kaiserzeit, die so kontrovers traktiert wurden wie die folgende kleine Passage, die im Geschichtswerk des Cassius Dio (59,25,3) überliefert wird. Sie gehört in den historischen Kontext von Kaiser Caligulas Aufenthalt in Germanien und Gallien, also in den Zeitraum Herbst 39 bis Frühjahr 40 n.Chr. Wir haben hier allerdings keinen fortlaufenden Originaltext des Cassius Dio mehr wie in den vorausgehenden Passagen des Buches 59 vor uns, das in seiner Gesamtheit den vier Regierungsjahren Caligulas gewidmet ist. Wir müssen daher auf ein durchaus umfängliches Exzerpt des Textes bei dem byzantinischen Historiker Johannes Xiphilinos (166,30 ff.) zurückgreifen, das in seiner Übersetzung wie folgt lautet: (1)

Wie er nun an den Ozean angelangt war, so als wolle er auch in Britannien einen Feldzug unternehmen, und sämtliche Soldaten am Strand hatte Aufstellung nehmen lassen, (2) bestieg er eine Triere, fuhr ein kurzes Stück vom Land weg und kehrte dann wieder zurück. Hierauf nahm er auf einer hohen Tribüne Platz und ließ sie durch die Trompeter aufmuntern, doch dann kam plötzlich sein Befehl, sie sollten die Muscheln sammeln. (3) Nachdem er diese Beutestücke entgegengenommen hatte - er brauchte sie ja offensichtlich für seinen Triumphzug -, war er mächtig stolz, wie wenn er den Ozean selbst unterworfen hätte, und verteilte viele Geschenke an die Soldaten.

Man kann die Problematik dieser Nachricht, die ansonsten noch bei Suetonius (Cal. 46) und Aurelius Victor (Caes. 3,11ff.), allerdings mit einigen kleinen inhaltlichen Abweichungen, tradiert wird, auf zwei kurze Fragen reduzieren. 1. Was liefert uns diese relativ kleine Nachricht an konkreten Informationen zur Geschichte des Kaisers Caligula? 2. Was beabsichtigte der Historiker Cassius Dio mit der Übermittlung dieser Information und vor allem mit der Form dieser Nachricht?

Einige der bei Cassius Dio gelieferten Einzelheiten werden durch den Bericht des Suetonius bestätigt, teilweise sogar noch etwas verdeutlicht. Demnach waren im Frühjahr des Jahres 40 römische Truppen in größerem Umfang an der Kanalküste bei Boulogne aufmarschiert, (2) wobei die Erwähnung von Geschützen und Belagerungsmaschinen bei Sueton deutlich macht, daß es etwas mehr als eine reine Truppenbesichtigung durch den Kaiser sein sollte.

(Suet. Cal. 46) Postremo quasi perpetraturus bellum, derecta acie in litore Oceani ac ballistis machinisque dispositis, nemine gnaro aut opinante quidnam coepturus esset, repente ut conchas legerent galeasque et sinus replerent imperavit, 'spolia Oceani' vocans 'Capitolio Palatioque debita', in indicum victoriae altissimam turrem excitavit, ex qua ut Pharo noctibus ad regendos navium cursus ignes emicarent; pronuntiatoque militi donativo centenis viritim denariis, quasi omne exemplum liberalitatis supergressus, 'abite', inquit, 'laeti, laeti locupletes'.

Die beiden Nachrichten scheinen in ihrer Gesamtheit mit ausreichender Sicherheit zu bestätigen, daß Caligula durchaus im Frühjahr 40 die Absicht hegte, wie sein großer Vorfahr Gaius Iulius Caesar einen Britannienfeldzug zu starten, was allerdings nur ein Plan blieb. Die unmittelbaren Gründe für einen solchen Plan scheinen durch die Unterwerfung des britannischen Fürsten Adminius, des Sohnes des Cynobellinus, geliefert worden zu sein, der von seinem Vater vertrieben worden war und jetzt die Hilfe Roms erflehte (Suet. Cal. 44,2). Um eine Invasion Britanniens einzuleiten, hätte diese politische Konstellation durchaus als Motivation ausgereicht, da man auf römischer Seite nicht unbedingt zimperlich war, wenn höhere Interessen einen solchen Plan nahelegten.

Dennoch wissen wir, daß es zumindest im Jahre 40 nicht zu dieser Invasion gekommen ist, denn erst Claudius, der Nachfolger des Caligula, realisierte im Jahre 43 diese Invasionspläne, die allerdings seit den Tagen des Augustus immer wieder in Rom diskutiert worden waren. Dabei erfahren wir aus der Anfangsphase des claudischen Feldzuges eine interessante Einzelheit, die uns wahrscheinlich auch für das Jahr 40 helfen kann. Denn als Aulus Plautius, der das Kommando führen sollte, den Befehl zur Einschiffung der Truppen gab, weigerten sich die Soldaten. Sie fürchteten, daß sie diese expeditio nicht nur in gefährliche Kämpfe verwickeln würde, sondern sie weit entfernt von der Zivilisation über die Grenzen der Welt hinausführen würde. Cassius Dio (60,19) verwendet dabei in seinem Text die Wendung ἔξω τῆς οἰκουμένης, wobei die Oikumene die Welt beschreibt, die vom großen Okeanos umflossen wird, der in diesem Fall vom Kanal repräsentiert wurde. Die Soldaten hatten also panische Angst, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen und verweigerten den Befehl.

Dabei muß man aber beachten, daß wahrscheinlich ein Teil der Soldaten, die im Gebiet von Boulogne aufmarschiert waren, identisch mit den Soldaten war, die bereits drei Jahre zuvor unter Caligula dort für ein ähnliches Vorhaben zusammengezogen worden waren, was vor allem für die ursprünglich in Germanien stationierten Truppen galt. (3) Man kann daher wohl kaum in die Irre gehen, wenn man vermutet, daß die Abneigung der Soldaten gegen den schwer zu kalkulierenden britannischen Feldzug kein Resultat der letzten Jahre war, sondern bereits im Jahre 40 vorhanden war und sich ihre Reaktion wohl kaum von der damaligen Reaktion unterschied: sie weigerten sich, in die Schiffe zu steigen.

Damit bekommt eine andere Nachricht bei Sueton plötzlich ungeahnte Brisanz. Denn Sueton (Cal. 48) berichtet, daß Caligula unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Rom den grausamen Plan faßte, ein Strafgericht an den römischen Truppen durchzuführen: Prius quam provincia decederet, consilium iniit nefandae atrocitatis legiones, quae post exces sum Augusti seditionem olim moverant, contrucidandi. Als Begründung liefert uns Sueton die Information, diese Truppen hätten einst gegen seinen Vater Germanicus rebelliert und ihn als kleines Kind im Lager eingeschlossen gehalten. Nach rund 25 Jahren waren sicherlich kaum noch Soldaten aktiv, die bei den damaligen Ereignissen im Herbst des Jahres 14 beteiligt gewesen waren, so daß diese Begründung Suetons wohl nur dazu dient, die unmenschliche Grausamkeit des tyrannischen Caligula zu unterstreichen. Die anschließende Passage berichtet uns, daß man den Kaiser zwar von dem ursprünglichen Vorhaben abbringen konnte, er aber dennoch darauf bestand, daß jeder zehnte Soldat dieser Einheiten getötet werden sollte (quin decimare velle perseveraret).

Im römischen Heer ist die Dezimierung allerdings eine durchaus übliche Strafmaßnahme für Befehlsverweigerung oder Feigheit vor dem Feind, die in diesem Fall nicht durchgeführt wurde, da die von dieser Strafe bedrohten Einheiten (es dürfte sich, wie aus dem Kontext erschließbar ist, um mehrere Legionen gehandelt haben) den Braten rochen und die entsprechenden Gegenmaßnahmen trafen, um sich gegen diese Bestrafung zu verteidigen. Hätte es sich nur um ein oder zwei Kohorten gehandelt, hätte es wahrscheinlich kaum Probleme gegeben, doch hier sah sich wohl ein ganzes Heer von der Strafe bedroht. Diese Ereigniskette ist noch durchaus nachvollziehbar, doch was haben die Muscheln in diesem Zusammenhang zu suchen? Um an dieser Stelle weiter- zukommen, ist zu beachten, daß sowohl Cassius Dio als auch Sueton dieses Detail an derselben Stelle ihrer Erzählung einfügen, d.h. nach dem Aufmarsch der Truppen am Strand (und das dürfen wir hier wohl einfügen) nach der Befehlsverweigerung der Soldaten. Wir haben mit dem Befehl zum Muschelsammeln also die unmittelbare Reaktion Caligulas auf die Weigerung der Soldaten vor uns.

Welche Bedeutung hat aber die Muschel in der Vorstellungswelt der Römer oder auch der Antike? Die zutreffende Antwort hat Hildebrecht Hommel bereits vor geraumer Zeit in einem verdienstvollen Aufsatz geliefert, ohne allerdings auf die hier diskutierte Stelle direkten Bezug zu nehmen. (4) Dabei ging Hommel in einem materialreichen Beitrag der komplizierten Etymologie des Wortes Porzellan nach, der vom doppeldeutigen Sinn des Wortes 'porcellum'='Ferkel, kleines Schwein' und 'junge Frau, Prostituierte' aus- ging. Dabei sammelte er auch reiches Material für die vielfältige Bedeutung des Wortes 'concha', das in der lateinischen Sprache nicht nur Muschel bedeutet, sondern auch im Volksmund die weiblichen Genitalien beschreiben kann. Was Caligula also hier seinen aufmüpfigen Soldaten mitteilen ließ, war eine Botschaft, die diese Soldaten durchaus verstehen konnten: Ihr seid keine Soldaten, die den Ruhm auf dem Schlachtfeld suchen wollen, die einzigen Trophäen, die ihr anstrebt und die man mit euch gewinnen kann, gibt es im Kampf mit Frauen. Nur in einem solchen Kampf seid ihr zu verwenden und nur dort bringt ihr Resultate.

Die doppelsinnige und durchaus deftige Bedeutung von concha ist auch bereits früheren Kommentatoren vor allem Suetons ins Auge gefallen, doch wurde sie erst vor wenigen Jahren in dem ansonsten sehr verdienstvollen Kommentar der Caligula-Vita von D. Wardle zwar in einem Referat der bisherigen Forschungsdiskussion angesprochen ("G.J.D.Aalders ... has made a salacious suggestion appropriate to Caligula and the context: conchae can be a slang term for female genitalia ... "), (5) allerdings dann durch die Fortführung des Kommentars zu verstehen gegeben, daß er den Wert dieses Vorschlags nicht besonders hoch einschätzte.

Es ist durchaus aufschlußreich für die Probleme, die die moderne Forschung mit dieser Nachricht hat, wenn man sich betrachtet, wie diese Episode von einigen Personen behandelt wurde, die wissenschaftliche Biographien Caligulas verfaßten. Balsdon, der eine immer noch lesenswerte Arbeit zu Caligula verfaßt hat, vermutete hinter den Muscheln einen mißverstandenen Hinweis auf technische Einrichtungen des Militärs (musculi=sappers huts), zog aber auch die Möglichkeit in Betracht, daß der Befehl des Kaisers gegen die Ehre (dignity) der Soldaten gerichtet war. (6) Barrett referiert einen Teil der bisherigen Forschungsdiskussion, merkt dann aber gegen Balsdon an, 'a form of humiliation, which, to say the least, would have been a courageous gesture on Caligula's part'. (7) Ferrill ist zwar kritisch gegenüber dem Vorschlag Balsdons zu den sappers huts, bleibt aber ohne rechte Alternative, da er generell die Nachrichten zu diesem Ereignis als kaum interpretierbar einstuft. (8) Karl Christ wendet nur einen kurzen Satz auf, um das Problem zumindest anzusprechen: "Allem Anschein nach hatte man gehofft, von innerbritannischen Streitigkeiten zu profitieren, doch im entscheidenden Augenblick erloschen offensichtlich die internen britischen Fehden. Dieser Sachverhalt dürfte sich wohl hinter der Episode der muschelsammelnden Legionen am Kanal verbergen." (9)

Natürlich ist das Bild Caligulas in der Nachwelt aus durchaus verständlichen Gründen nicht besonders schmeichelhaft und wird an vielen Stellen eindeutig durch die Regeln der antiken Tyrannentopik bestimmt, doch selbst unter diesen Umständen wird deutlich, daß Caligula ein scharfzüngiger Mensch war, der vor nichts und niemandem zurückschreckte, wobei sein Humor für uns zuweilen nur schwer zu verkraften ist. Der Befehl, eine Gruppe von Gefangenen 'vom Glatzkopf bis zum Glatzkopf' (a calvo ad calvum duci imperavit) hinzurichten, ist ein Beispiel für den grausamen Witz, der von Caligula gepflegt wurde. (10) Auch die Charakterisierung seiner Urgroßmutter Livia und der Umstände ihrer überstürzten Heirat mit Augustus mit den Worten, sie sei ein 'Odysseus im Weiberrock' (Ulixes stolatus) gewesen, gehört in diese Kategorie kaiserlicher Äußerungen. (11)

Dazu sind einige grundsätzliche Bemerkungen notwendig. Man sieht unsere antiken Quellenautoren viel zu oft nur unter dem Gesichtspunkt moderner Historiographie und vergißt dabei leider, daß diese antiken Historiker keine Mitglieder des zur kritischen Forschung verpflichteten Wissenschaftsbetriebes der Neuzeit waren, sondern Persönlichkeiten, für die die Historiographie ein fester Bestandteil des zeitgenössischen literarischen Betriebes darstellte. Der antike Historiker war daher auch nicht wie ein Historiker moderner Provenienz zur zuweilen staubtrockenen Unparteilichkeit verpflichtet, (12) er konnte vielmehr polemisieren, Kritik üben (auch an den Zuständen seiner eigenen Lebenszeit) und literarische Anspielungen in seinen Text einbauen. Neben der sachlichen Information war auch die gelungene Unterhaltung des Publikums ein legitimer Zweck der antiken Geschichtsschreibung.

Man muß daher an dieser Stelle ganz einfach akzeptieren, daß sich antike Historiker, und zu diesen gehörten auch Suetonius und Cassius Dio, nicht gescheut haben, deftige Aussprüche ihrer Protagonisten zu überliefern und auch Einzelheiten des Sexuallebens bei römischen Kaisern zu registrieren, die ein moderner Historiker, wenn überhaupt, höchstens in einer Fußnote ansprechen würde. (13)

Es ist zwar nicht unbedingt notwendig, wie der britische Kollege Michael Vickers hinter jeder Formulierung eines antiken Textes eine doppeldeutige Intention oder eine sexuelle Anspielung zu vermuten, doch im Falle der Muscheln des Caligula scheint die sexuelle Deutung wohl recht eindeutig zu sein. (14)

Doch damit scheint die Deutung der Textstelle bei Cassius Dio, von der meine Untersuchungen ursprünglich ausgingen, noch nicht abgeschlossen zu sein, denn wäh- rend Suetonius durchaus noch mit Menschen sprechen konnte, die Zeitgenossen Caligulas gewesen waren, verfaßte Cassius Dio sein Geschichtswerk in einem zeitlichen Abstand von rund 180 Jahren zu Caligulas Regierungszeit. Daher ist es durchaus legitim, jetzt zu meiner zweiten Frage überzugehen, was beabsichtigte speziell Dio mit der Übermittlung dieser Information und vor allem mit der Form dieser Nachricht.

Wie bereits angemerkt, befinden wir uns an der fraglichen Stelle in dem Bereich von Cassius Dios Buch 59, in dem kein fortlaufender Text mehr erhalten ist. Der heutige Cassius Dio-Text, der von dem niederländischen Philologen Ursulus Boissevain rekonstituiert wurde, besteht hier aus einer Sequenz von Fragmenten, die er den Werken der byzantinischen Autoren Johannes von Antiocheia und Johannes Xiphilinos entnahm, die einen ihnen wohl noch vollständig vorliegenden Text des Cassius Dio exzerpieren konnten. Zum Glück für uns behielten beide Autoren im wesentlichen die ihnen vom Gesamttext vorgegebene Struktur bei, d.h. die Fragmente spiegeln in ihrer Abfolge im wesentlichen die Abfolge des ursprünglichen Textes wider. Unter dieser methodischen Prämisse ist eine die aktuelle Abfolge der Fragmente berücksichtigende Vorgehensweise durchaus zu rechtfertigen.

Ein sowohl bei Sueton als auch bei Dio faßbarer Gedanke ist die geistige Verbindung zwischen der von Caligula geplanten expeditio Britannica und dem anschließenden Triumph in Rom, der aus diesen Leistungen resultieren sollte. Bei Sueton (Cal. 47) leitet die Gedankenführung recht direkt von den Ereignissen an der Kanalküste über zur Vorbereitung von möglichst ansehnlichen Gefangenen für die öffentliche Zurschaustellung in Rom, wobei der Kaiser sich nach Aussage Suetons nicht scheute, auch Pseudogefangene für den Festzug zu rekrutieren. (15)

Etwas komplizierter ist die Darstellung bei Dio. Dio stellt zunächst eine eindeutige gedankliche Verbindung zwischen den Muscheln und dem geplanten Triumphzug her. Die Muscheln sind die Beutestücke, die im Triumphzug der Öffentlichkeit in Rom als Beute des Kaisers präsentiert werden sollen, und dies, nachdem Dio bereits vorher im Text breit ausgeführt hat, daß Caligula keinerlei Siege errungen hat, die einen Triumph rechtfertigen würden. Denn wie Dio berichtet, bestanden die militärischen Leistungen des Kaisers nur aus Schurkentaten gegen seine eigenen Leute. (16)

Im unmittelbaren Anschluß an diese Passage mit den Muscheln folgt eine Notiz zu den von Caligula vorgeblich bei dieser Gelegenheit angenommenen Siegesnamen, die uns allerdings nur in einer stark komprimierten Textfassung bei Johannes von Antiocheia vorliegt (Dio 59, 25,5 a=Joh. Ant. fr. 82 M.). Trotz dieser bedauerlichen Beeinträchtigung läßt sich die ursprüngliche Tendenz von Dios pointierter Darstellung noch recht gut fassen: Caligula erhielt nicht wegen seiner angeblichen Siege über Germanen und Britannier, also nicht ex virtute, sondern wegen seiner moralischen Verfehlungen ἐκ δὲ τῶν μοιχειῶν die beiden Siegesnamen Germanicus und Britannicus. Wir können hier zunächst feststellen, daß sich Cassius Dio mit dieser Deutung in einem bereits von der früheren Tradition wie bei Sueton vorgegebenen Argumentationsschema bewegt und das Motiv der Muscheln mit ihrer sexuellen Bedeutung fortführt. Dennoch gibt es im Vergleich mit Sueton eine inhaltliche Fortentwicklung, denn die Annahme der beiden Siegesnamen durch Caligula findet sich nur bei Cassius Dio überliefert. (17)

Germanicus, den ersten dieser Namen, mußte der Kaiser allerdings nicht erst durch einen persönlich errungenen Germanensieg erwerben, denn diesen hatte er ja schließlich als erbliches cognomen von seinem natürlichen Großvater, dem älteren Drusus, übernommen, wie Dio selbst ganz korrekt an anderer Stelle zu berichten wußte. (18) Die Annahme des zweiten Siegesbeinamens, also Britannicus, läßt sich hingegen für Caligula in keiner einzigen antiken Quelle gesichert nachweisen und ist deshalb wohl voll und ganz der fruchtbaren Phantasie Dios zuzuordnen.

Dennoch hat es den Anschein, daß Dio an dieser Stelle nicht phantasiert hat, sondern diese beiden Siegesnamen mit einer gewissen Überlegung und möglicherweise sogar einem kleinen Augenzwinkern für die wissenden Zeitgenossen, also die Menschen zur Zeit der Severer, in seiner Erzählung erwähnte. Denn Cassius hatte ja noch selbst persönlich zwei regierende Kaiser erlebt, die wirklich beide Siegesnamen trugen und dazu noch in der übersteigerten Form als Britannicus Maximus und Germanicus Maximus, nämlich die beiden Kaiser Commodus (177-192) und Caracalla (198-217). (19) Der hier entschlüsselte Inhalt seiner Botschaft bedeutet also nichts anderes, als daß Commodus und Caracalla ihre beiden Siegestitel völlig unverdient trugen, sie waren Resultat ihrer Schurkentaten und Hurereien, nicht ihrer militärischen Siege. Wen von diesen beiden er vor allem aufs Korn nahm, läßt sich nicht mehr im Detail ermitteln, obwohl die Tendenz seiner Polemik im gesamten Buch 59 eher für Caracalla sprechen würde. Verachtet, ja sogar gehaßt hat Cassius Dio sicherlich beide Herrscher, dafür gibt es selbst in den fragmentarisch überlieferten Passagen seines Geschichtswerkes genügend aussagekräftige Stellen. (20)

Der nur von der Historia Augusta überlieferte angebliche Vorschlag des Senates, Kaiser Caracalla zum Geticus Maximus, also zum größten Sieger über die Geten oder zum größten Sieger über Geta, seinen von ihm selbst ermordeten Bruder, zu ernennen, gehört in dieselbe Kategorie der politischen Polemik wie die gerade behandelten Passagen bei Cassius Dio, ist allerdings deutlich grobschlächtiger konzipiert. (21)

An diesem kleinen Beispiel zeigt sich, daß antike Historiker keine leidenschaftslosen Gesellen waren, die aus ihrem Elfenbeinturm die Zeitläufte kommentierten, sondern daß sie ihre Geschichtswerke durchaus 'cum ira et cum studio' verfaßten. Vor allem bei Cassius Dio, einem literarisch gebildeten Senator aus einer alten griechischen Familie Bithyniens, muß man davon ausgehen, daß er seine klassischen Autoren, zu denen auch die Klassiker der attischen Komödie mit ihrer derben Sprache gehörten, gelesen hatte und mit diesen literarischen Vorbildern auch etwas anzufangen wußte. Daß wir uns heute solche doppelbödigen Inhalte wie im Falle der Muscheln erst mühsam erschließen müssen, wird verständlicher, wenn wir bedenken, daß Cassius Dio nicht für uns geschrieben hat, sondern für seine eigenen Zeitgenossen. Seine Zielgruppe war wie er selbst Teil eines literarisch gebildeten und wohl auch sehr spottlustigen Publikums, das solche Anspielungen sofort verstand und auch goutierte. Wenn man vermutet, daß Cassius Dio ausgewählte Partien seines Geschichtswerks zunächst einem kundigen Auditorium vortragen ließ und dabei eine uns heute völlig verlorene Dimension des antiken Literaturbetriebs, der sprachliche Ausdruck beim Vortrag, zum Einsatz kam, dann darf man vermuten, daß seine Zeitgenossen sich nicht nur belehrt, sondern auch belustigt fühlten. (22)

Ich hoffe daher in diesem Sinne, daß ich durch meine Ausführungen den verdienten Kollegen, der immerhin in den 'Abwegen der Forschung' bahnbrechende Erkenntnisse zur Entwicklung der minoischen Wandmalerei geliefert hat, nicht nur belehrt habe, sondern auch etwas amüsieren konnte.

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