ELMA HEINZEL  

Krater
Abb. 5: Apulischer Volutrenkrater (Slg. Sciclounoff) in Genf. Hier nach K. Schefold - F. Jung, Urkönige (1988) Abb. 36a auf S. 47; A. D. Trendall - A. Cambitoglou, RVAp, Suppl. II/1, 162, 283d.

In der oberen Bildzone eine Götterversammlung, in der unteren Zone stehen am rechten Bildrand der Szene ΜΕΛΑΝΙΠΠΗ und eine Amme (ΤΡΟΦΟΣ), in der Bildmitte ein Hirte mit den Kindern, der Großvater ἙΛΛΗΝ blickt zornig auf die Kinder, hinter dem Hirten (ΒΟΤΗΡ) der Vater der Melanippe, ΑΙΟΛΟΣ, erschrocken zurückweichend, dahinter ein Jüngling mit der Beischrift ΚΡΗΘΕΥΣ, er bekränzt ein Pferd, welches vielleicht Hippe in Pferdegestalt symbolisieren könnte, weil mit dem Kranz das Sternbild als Ewigkeitssymbol ausgedrückt ist. Man beachte Kretheus als Gatten der Tyro, der hier im Sinnzusammenhang zur Melanippe aufscheint. Unterweltmaler, um 330 v. Chr.


 

Am Schicksal der Tyro können wir analoges Vorgehen nicht ableiten, sie soll im Ehestand noch drei weitere Söhne geboren haben, nämlich Pheres, Aison und Amythaon, Heldensöhne, von denen Aison als Vater des Iason der bedeutendste gewesen ist. Statt ihrer Einkerkerung erhielten ihre ehelichen Söhne vorrangige Bedeutung. Verpönt waren Pelias und Neleus, allerdings erst nach dem Scheitern der Mission des Iason, weil mit der Rückbringung des Vlieses der grauenvolle Mord an Pelias verbunden war, wohl als Gottesurteil für die widerrechtliche Aneignung desselben zu deuten.

Dem Untergang geweiht war damit der von Poseidon bestellte Nachwuchs. Es drückt sich hierin das Scheitern einer Religionspolitik aus, die mit Poseidon und seiner Fluchthilfe für die jüngsten Kinder des Athamas, Helle und Phrixos, in der Gestaltwerdung als Widder der Zeus-Ammon-Religion ihren Anfang nahm und als Flußgott Enipeus (45) seine Fortsetzung fand - nämlich mit der Zeugung des Pelias, welcher eine Generation später den Iason um eine Rückholung des Vlieses nach Kolchis ausschicken sollte.

Die Landnahme durch Kadmos kann als entscheidender Grund für das Fluchtmanöver der beiden Kinder Helle und Phrixos auf dem Rücken des Goldenen Widders angesehen werden. Denn die Kadmostochter Ino hatte als zweite Frau des Herrschers Athamas die Entrechtung der beiden Jüngsten aus seiner ersten Ehe veranlaßt. Mit seiner Ausweisung aus Boiotien nach der Phthiotis, die mit seiner Entrechtung endete, war auch sein Untergang vorbestimmt gewesen, weil er als Ältester seines Geschlechtes das Rathaus von Halos nicht mehr betreten durfte, also kein Mitbestimmungsrecht mehr besaß. Die Neuvergabe eines teras erfolgte - laut Mythos - als Kampfansage gegen den Pelopiden Atreus, und Pelops war von Poseidon gefördert worden. Sein Sohn Atreus bekam also das goldene Lamm als göttliches Zeichen und Herrschaftszusage in seine Herde gestellt (46). An ihm entzündete sich der Streit der beiden Brüder Atreus und Thyestes. Während Thyestes noch von Thesprotien aus Hilfestellung erhielt, wurde Orestes, Enkelsohn des Atreus, bereits von Delphi aus gefördert. Atreus selbst erhielt sein Kuppelgrab in der Peloponnes. Der Omphalos von Delphi, Pythonis tumulus (nach Varro, ling. VII p. 304), ist wahrscheinlich als Kuppelgrab zu deuten (47), was sich symbolisch auch auf das Kuppelgrab des Atreus beziehen dürfte.

Nach der Rückeroberung des Vlieses scheiterte nur am apollinischen Delphi die von Kolchis aus erneuerte Religionspolitik der Revanchenahme, Delphi, das seinen Einfluß gegen eine Ausweitung der Blutrache und gegen eine Inzuchtsgebarung - wie im Falle des Aigisthos - geltend machte. Diese reinigenden Bestrebungen Delphis vermitteln uns seinen Gegensatz zu Dodona, das mit seiner Orakelpolitik und den zukunftsweisenden Bestimmungen eine destruktive Einflußnahme verkörperte.

Aiolischer Priesteradel wurde deshalb von Delphi aus verfolgt, das sich gegen das Brauchtum der Lykaonreligion stellte. "Lykaon aber brachte zum Altar des Zeus Lykaios einen menschlichen Säugling; er opferte den Säugling und sprengte das Blut auf den Altar. Bei diesem Opfer soll, so wird gesagt, der Mensch zum Wolf geworden sein." (Paus. VIII 2, 3).

Indem Delphi durch seine Entsühnungspolitik Adelsfamilien von seinen Bestimmungen abhängig machte, vertrat es zwangsläufig die Anliegen des Volkes. Der delphischen Politik fiel deshalb auch Hippe zum Opfer, die als Tochter des Chiron wegen seiner Delphi feindlichen Adelspolitik in Ungnade fiel und als Geliebte des Aiolos II auf der Flucht vor ihrem Vater die Melanippe gebar. Sie wurde unsterblich gemacht, und zwar von der Göttin Artemis in diesen Stand erhoben, wie es im Mythos heißt - also dem Poseidon angeglichen. Hippe gebar zuvor aber jene Melanippe, die uns durch ihren Fluchtweg nach Metapontum das Fortsetzungsschicksal zur Tyro offenbart. Ihre Flucht ist wahrscheinlich als Ausweisung zu interpretieren, weil der Eponymos Metapontos bei Euripides als König von Ikaria bezeichnet wird. Von Ikaria aus, dem attischen Demos, soll Metapontum gegründet worden sein (48). Dies würde bedeuten, daß die Ausweisung der Melanippe von Attika aus erfolgte - im Zuge derselben war auch eine Verbreitung dionysischen Gedankengutes verbunden, das parallel zum Leben der Mänaden und unverheirateten Frauen seine erlösende Wirkung tat. Der Demos Ikaria wurde nach dem Liebling des Bakchos, Ikarios, benannt, der als Βοώτης ebenfalls verstirnt wurde (Hyg. fab. 130). Verstirnt deshalb, weil der Mysterientrost auch die unterste Bevölkerungskaste erreichen sollte.

Wenn Hippe von Artemis verstirnt wurde, dann weil sie dieser Göttin verpflichtet war, sie wird also am ehesten als Amazone zu deuten sein, die im Ursprung aus dem Kultkreis des Poseidon hervorgegangen waren, weil er ihre Knaben für eine gesonderte, familienfeindliche Erziehung von den Müttern trennte (49). Melanippe wurde zusammen mit der Neugründung von Metapontum nach der Siritis weitergereicht. Im Mythos dagegen besaß Metapontos bereits eine Frau, nämlich Theano, die kinderlos geblieben war und deshalb verstoßen werden sollte. Von Hirten wurden ihr Zwillinge zugetragen, nämlich jene der Melanippe, die wir uns zwischenzeitlich als eingekerkert vorzustellen haben. Da die Melanippe ἡ δεσμῶτις in Metapontum spielt, müßte jedoch die Einkerkerung der Mutter dort erfolgt sein - aus moralischen Gründen, wobei eine Verbindung zu Delphi durch die Opferung des Königs an die Diana (Metapontina) vorausgesetzt werden kann. Ihre Verschuldung bestand in ihrer unmoralischen Lebenshaltung, die sie zur Geliebten des Poseidon gemacht hatte, während die Aufgeklärtheit aus der Melanippe ἡ σοφή an der Göttlichkeit des Geliebten zu zweifeln Anlaß gab. Dieser Moralbegriff entsprach nicht dem Ethos von Delphi. Die Einkerkerung weist sie als Dirne im Sinne dionysischer Moralvorstellung aus, welche die Ehegesetze negierte. Nur dem Umstand, daß Theano eigene Kinder nach der Auffindung der fremden zu Welt brachte, war es zuzuschreiben, daß sie gegen die beiden älteren Kinder intrigierte und sie töten lassen wollte. Damit aber setzte sie sich ins Unrecht, irrtümlich kamen ihre eigenen Söhne zu Tode, sie aber beging Selbstmord. Der König, nachdem er wohl Melanippe als gottgewollte Geliebte ausgeforscht hatte, nahm sie sekundär zur Frau und adoptierte die Söhne. "γψναῖκες, ἀμφὶ δʹ ἁγνὰ Δωδώνης βάθρα φηγῷ παρʹ ἱερᾶ θῆλυ τᾶς Διὸς φρένας γένος πορεύει τοῖς θέλουσιν Ἑλλάδος." (Eurip. Μ. ἡ δεσμῶτις, frgt. 494) Frauen sind es, die in den heiligen Schluchten von Dodona bei der geweihten Eiche die Gedanken des Zeus den fragenden Griechen vermitteln.

Die terata der Melanippe zählten als Göttersöhne nicht mehr, sondern sie gelangten nur über die Einrichtung der Ehe zu Rang und Namen. Denn die Befreiung der Melanippe durch ihre Söhne gelang allein aufgrund göttlicher Vermittlung.

Am Werdegang der Ilia ließ sich dieselbe Tendenz ablesen, wie sie für die von Poseidon schwangere Tyro nachgewiesen wurde, nämlich das Scheitern ihrer Existenz, soweit wie es die Hilfestellung durch den Meergott betraf. Wie ein Spott mag es uns erscheinen, daß sich die als Vestalin hingerichtete Ilia in den Armen des Tiber geborgen wiederfand, denn der Tiber - als Flußgott dem Poseidon geglichen - war Zuflucht für die Schiffe der Troer, die sich mit Aeneas auf der Flucht befanden; angeblich von einer Troerin Ῥώμη wurden sämtliche Schiffe verbrannt, um sie an der Weiterfahrt zu hindern. Mit der Seßhaftwerdung sprach man auch dem Einfluß des Poseidon seine hilfreiche Wirkung ab.

Melanippe suchte gleich der Tyro in der letztlich gültigen Ehe mit dem König Metapontos Vergessen aus der unwürdigen Lage der unverheirateten Mutter, aber ihren Kindern war als terata des Poseidon trotzdem kein vorbestimmtes königliches Schicksal mehr zuteil, denn außer ihren Namen fehlte mit dem Einfluß von Delphi jegliche Verbindung zu ihren eponymen Herkunftsländern. Nach Diod. IV 67 töteten die beiden Söhne ihre Pflegemutter Theano, flohen zurück nach der Aiolis bzw. Boiotien und befreiten ihre Mutter aus der Hand des Großvaters (Aiolos II). Sie blieben damit aber schuldhaft mit dem Unglück der Theano verknüpft, so daß sie letztlich ohne Geltung und Anspruch auf den Thron aus der Förderung durch einen Gott hervorgingen.

 
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