OLIVER STOLL  
Die "Remus-Psychose"
Eine Provokation und ihre Folgen für die Römische Geschichte

Daß die sagenhaften Ursprünge Roms die Ursache für eine Psychose sein sollen, die im Lauf der Zeiten als ein entscheidendes Movens für die strikte Beachtung der sprichwörtlich römischen Disziplin wirkte (1), die Rom ja letztlich schon nach antiker Auffassung die Weltherrschaft sicherte (2), ja, daß Angstschweiß auch als treibende Kraft in entscheidenden Regelungen des Römischen Rechtes zu sehen ist, also tiefempfundene Furcht, verbunden mit einem immensen Schuldkomplex, als eines der unerkannten arcana imperii - die Psychose als Movens römischer Geschichte - zu gelten hat, scheint nicht auf den ersten Blick leicht einsehbar.

Die Quellen zum Beweis dieser Behauptung liegen seit Jahrhunderten offen auf der Hand, ihre Deutung freilich bedarf des Scharfsinnes historischer Interpretation und der auf interdisziplinärer Ebene eingeforderten Hilfe der Psychoanalyse, die der Verfasser zur Ehre des Jubilares nun in Anspruch zu nehmen gedenkt.

Die Vorgeschichte ist schnell erzählt. Von den älteren Gründungslegenden Roms, die von Graeculi wie Alkimos (3) in gewohnter Verweichlichung um die Wende des 5. und 4. Jhs. vor Christus manipuliert worden sind - Dionys von Halikarnassos zählt schließlich allein sieben griechische Versionen auf (4) -, interessiert uns hier nichts. Unser Hauptaugenmerk liegt auf der von Livius in größter Klarheit verfaßten - und auch alle wesentlichen psychologischen Momente berücksichtigenden- klassischen Version der Geschehnisse. Unser "Angst-Patient" heißt Romulus, unser Beschäftigungsgegenstand ist die eigentliche Geschichte der Entstehung Roms, die Romulus-Remus-Episode. Bekanntlich liegt ja die Wurzel aller menschlicher Übel und allen verwerflichen menschlichen Tuns in den Vorkommnissen, Fehlern und Versäumnissen der Eltern, den Umständen der Geburt und der frühen Kindheit, die durch das entsprechende Handeln der Erziehungsberechtigten geprägt ist. Die Verfehlung der Rea Silvia, schließlich vestalische Jungfrau, die sich mit einem gewissen Mars einließ - dieser Name ist selbstverständlich völlige Fiktion, es wird sich vielmehr, wie aus dem Zusammenhang deutlich wird, um einen der übelsten Viehhirten Alba Longas gehandelt haben, dem der Status der "heiligen Jungfrau" im übrigen so ziemlich egal gewesen zu sein scheint -, resultierte bekanntlich in der Geburt der Zwillinge Romulus und Remus (5). Man stelle sich vor: der Vater im wesentlichen unbekannt, die "reine Mutter" nicht ganz so keusch, die Vertuschung der Umstände und der versuchte Kindsmord durch Aussetzung der Zwillinge in einem wasserdurchlässigen Einkaufskorb im Tiber. Das alles wird in der kindlichen Seele der beiden Heroen tiefe Spuren hinterlassen haben. Im übrigen lassen sich aus dieser frühkindlichen Prägung der Gründer Roms auch Eigenheiten der römischen Religion und ihrer Riten ableiten, etwa wie der altitalischen Lupercalia, die in ihrer später bekannten Form gewiß auf eine Reform durch Romulus und Remus zurückzugehen scheinen (6). Die Jugend Roms hatte diesen Initiationsritus zu erleiden, weil die Wut der Gründerväter, die in ihm die frühen Jahre als Hirten und die ohnmächtige Wut auf die unkeusche Mutter nachzustellen gedachten, da diese sie in Vaterlosigkeit dem Elend der unsicheren Flußschiffahrt auf dem Tiber und den unbequemen Begleitumständen des Landlebens überantwortete, als unbedingte Voraussetzung für eine Erklärung der Eigenheiten des Festes zu sehen ist. Wie sonst sollte man die Abschlachtung von Bock, Ziege und Hund deuten denn als Ausdruck der rituellen Befreiung von den bedrückenden Umständen des Arbeitslebens - quasi eine Abschaffung von Arbeitsinstrument und Arbeitskapital in präkapitalistischer Gesellschaft, die allerdings von Marx in seiner Bedeutung ebenso wenig erkannt worden ist wie in der Freudschen Kompensationslehre? Wie anders wäre der Lauf der luperci zu deuten als ein weiteres Mittel der Kompensation unterdrückter Kindsgefühle, als Aufschrei der gequälten Kinderseele? Und schließlich, als stärkstes Element, die Schläge mit Fellstreifen, die man dabei an Frauen austeilte: Was ist dies anderes als ein Ausdruck und zugleich auch die Kompensation ohnmächtiger Wut auf die Muttergestalt. Schließlich gilt das Fell als Ausdruck von Wärme und Behaglichkeit. Die Mißhandlung des weiblichen Elementes mittels eines solchen Schlaginstrumentes kann nicht anders gedeutet werden denn als Bestrafung für den Entzug von Wärme und Geborgenheit im frühen Kindesalter, der hier im "Kultspiel" nachgeahmt worden ist (7).

Doch kehren wir zu Romulus und Remus selbst zurück: Das unbändige Gefühl, durch eigene Leistung das aus den Umständen der frühen Jugend resultierende Minderwertigkeitsgefühl zu bekämpfen - und nicht etwa eine durch gewisse Quellen suggerierte Überbevölkerung Alba Longas -, führte zu dem folgenschweren Entschluß, nun endlich sich aus dem Schatten der relativen Bedeutungslosigkeit zu lösen und einen eigenen Hausstand zu gründen. Aventin und Palatin wurden als Aussichtspunkte für die Suche nach geeigneten Hausgenossinnen gewählt, jedoch stellte sich anstelle der erwünschten Ehegattinnen - diese sind bekanntlich durch eine schlagkräftige Ehe-vermittlung erst später aus dem Ostsabinerland und nicht, wie gelegentlich behauptet, aus Osteuropa importiert worden (8) - ein bezeichnendes Gründungsaugurium ein. Remus sichtete als erster von beiden sechs Geier, die über seinem Haupte kreisten. Was für ein Omen! Doch erwies sich das Ganze für ihn insofern als eine Pleite (9), als seinem Bruder gleich zwölf dieser Vögel erschienen (10). Die bekannteste Überlieferung, so Livius (11), sagt, daß Remus dann, solchermaßen getoppt, um sich über den Bruder Romulus lustig zu machen, über eine von diesem aus Langeweile über das Ausbleiben der bereits erwähnten weiblichen Personen aufgeschichtete Steinmauer, die erst später als erste Mauer der Stadt Rom umgedeutet wurde, und um eine historische Erklärung für das Folgende zu liefern, hinwegsprang: "Vulgatior fama est ludibrio fratris Remum novos transiluisse muros". Romulus habe in Wut darüber daraufhin den Bruder erschlagen - "Sic deinde, quicumque alius transiliet moenia mea" soll er dabei gesagt haben, also "so soll es künftig jedem ergehen, der über meine Mauern springt" (12). In einem typischen Akt der Ausblendung wurde Remus, sozusagen der Archetyp des humanistischen Bauopfers, auf dessen gelungener Abschlachtung die günstige Entwicklung der Grundlagen auch der heutigen geistigen Kultur Europas zurückgeht, aus den noch nicht vorhandenen Annalen der römischen Geschichte verbannt. Bezeichnenderweise hat dieses so bedeutsame Ereignis des Mauersprunges in keiner bildlichen Darstellung der Romuluslegenden einen Niederschlag gefunden. Keine Statuette, keine Statue, kein Wandbild und kein Münzbild fassen den Augenblick des Mauersprunges oder wenigstens auch nur die Tötung des Remus im Affekt ins Bild (13). Die aus Überspielung des starken Schuldtriebes kräftig vorangetriebene Schöpfung der Stadt Rom, die selbstverständlich nicht den Namen des Bruders Remus, sondern des schuldbeladenen Romulus bekam, ist als Kompensation dieses Schuldkomplexes zu verstehen. Sie vermag auch die Besessenheit nachfolgender Generationen kriegswütiger Römer zu erklären, die den in der späteren Curia stattfindenden Selbsterfahrungsgruppen der patrizisch-plebejischen Schuldgemeinschaft durch ungerichtetes Engagement über den gesamten orbis terrarum - diese Fluchtreaktion wurde oft als römischer Imperialismus mißverstanden - zu entkommen suchte. Jedoch ist die Geschichte von der Tötung des Remus und deren Ursachen auch eine "didaktische Sage". Aus den mit dieser Episode verbundenen Schuldgefühlen und Ängsten erklärt sich der von den Römern selbst geschaffene Mythos von der Heiligkeit der Mauern, die auf keinen Fall übersprungen wurden durften.

Die Feinde Roms wußten um dessen Ängste, wie der bewundernswerte Zug des Hannibal über die Alpen zeigt. Der Metus Punicus (14), ein weiteres Movens römischen Handelns, speiste nicht zuletzt daraus seine bedrückende Kraft, daß dieser Feldherr nach dem Überschreiten des Alpenhauptkammes und auf einem Felsvorsprung über der Poebene stehend zu Recht stolz verkünden konnte, jetzt habe man die Mauern Italiens überstiegen, ja - noch bevor das berühmte "Hannibal ad portas" auch wirklich von den Wällen Roms erscholl - mit den Mauern Italiens auch die der Stadt Rom selbst: "...moeniaque eos tum transcendere non Italiae modo, sed etiam urbis Romanae..." (15). Bezeichnenderweise wurde in der Panik des Momentes auf römischer Seite auf ein altes Reinigungsritual zurückgegriffen, das das Wohlwollen der Götter wiedererlangen sollte: die römischen Matronen ließen in den Tempeln, auf den Knien liegend, ihre gelösten Haare auf dem Boden hin- und herschleifen und flehten die Götter um Rettung an (16). Auch dies darf als stellvertretende Sühne angesehen werden. Wer, wenn nicht die Mütter, konnte Rom gegen die durch die "Erbsünde" fehlender Mutterliebe begründete Psychose die erlösende und das Miasma bereinigende Kraft göttlichen Wohlwollens wiedergewinnen?

Kommen wir zum Abschluß ein letztes Mal auf den Komplex römische Disziplin und Mauersprung zurück. Hier, auf dem Gebiet der iuristischen Fixierung geltenden Militärstrafrechtes, können wir die Nachwirkungen der alten Maxime des Romulus mit der Sentenz "so soll es künftig jedem ergehen, der über meine Mauern springt" (17) und den harschen Konsequenzen solchen Tuns noch ein weiteres Mal fassen: Wer nach dem Zeugnis des Iuristen Rufus ein Militärlager, das in seiner Grundanlage und in seinen Einzelbestandteilen in der antiken Literatur und Rechtsquellen immer wieder mit einer antiken Stadt verglichen wird und eben auch murus und pomerium besitzt, über die Mauern oder Gräben betritt oder verläßt, der ist des Todes (18). Das Handeln contra disciplinam verletzt auch in diesem Fall die seit Romulus festgelegten Regeln der römischen Gesellschaft, die auch in den Militärlagern einen Mikrokosmos Roms sahen (19). Wie bekannt, feierten alle Garnisonen des Reiches am 21. April den Geburtstag Roms und sahen sich so jedes Mal aufs Neue dem Grundsatz des Romulus verpflichtet.

Zu den scheinbaren Inkonsequenzen römischen Handelns gehört es allerdings, daß in bestimmten Fällen auch das Überspringen einer Mauer mit militärischen Dekorationen belohnt werden konnte: wer als erster eine feindliche Mauer übersprang, der erhielt die hochberühmte Auszeichnung (20) der corona muralis. Anscheinend spielt also nicht nur der Sprung an sich, sondern auch die Richtung des Sprunges sowie die iuristischen Eigentumsverhältnisse an der betreffenden Mauer eine nicht unwichtige Rolle. Schließlich heißt es auch im Evangelium des Johannes "Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch: wer den Schafsstall nicht durch die Türen betritt, sondern sonstwo herein- oder herausklettert, der ist ein Dieb, wer aber durch das Gattertor kommt, der ist der Schafhirt unter den Schafen" (21). Aber dieses schwierige Problem und seine Interpretation sollen einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben, die sich mit besonderer Hingabe der aus dem oben Dargelegten resultierenden Frage widmen wird: war Romulus in Folge seiner Schuldgefühle suizidgefährdet (22)?

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