FRIEDERIKE NAUMANN-STECKNER  
Herakles und die Königstöchter

Im Sommersemester 1982 behandelte ich im Rahmen eines Proseminars die 'Heraklestaten in der griechischen und römischen Kunst' - nicht nur die allseits bekannten Mythen, die im Dodekathlos kanonisiert sind, sondern auch selten überlieferte kleine Episoden. Freundlicherweise stellte mir R. Fleischer vier Umzeichnungen zur Verfügung, die mit großer Wahrscheinlichkeit als einzige erhaltene Zeugnisse einer bildlich und literarisch sonst nicht überlieferten Tat des großen Helden gelten können. Welcher Denkmälergattung die Originale angehören, ist den Unterlagen nicht zu entnehmen. Nach der einerseits detaillierten, andererseits etwas schematischen Darstellungsart vermute ich, dass Fleischer Bilder schwarzfiguriger Tongefäße kopierte.

Abb. 1
Abb. 1

Die erste Zeichnung gibt links ein kleines griechisches Haus mit Metopen-Triglyphenfries und Giebeldach mit Mittel- und Seitenakroteren wieder. An dem Haus lehnen eine Keule und ein Bogen, vom Haus zu einem Pfosten ist eine Wäscheleine gespannt, auf der ein Löwenfell hängt - sorgfältig festgeklammert, damit es der Nachtwind nicht davonträgt. Neben dem Haus ist ein kleineres Gebäude zu sehen, ebenfalls mit Metopen-Triglyphenfries und Akroteren, nach der Inschrift über der Tür die Hütte des Höllenhundes. Kein Zweifel: Bleibe des Herakles nach dem Kampf mit dem nemeischen Löwen und dem Heraufholen des Kerberos. Rechts schreiten langhaarige Mädchen mit großen Besen über der Schulter in Richtung Augiasstall - wie der Wegweiser wissen lässt. Die vorletzte hat sich zur Freundin oder Schwester umgedreht und meint enttäuscht "Die in der vergangenen Woche sollen es viel lustiger gehabt haben". (Im Wissen um die Griechischkenntnisse heutiger Proseminarteilnehmer hat Fleischer die Beischrift bereits übersetzt).

Abb. 2
Abb. 2

Die Geschehnisse jener vergangenen Woche - oder einer einzigen Nacht? - erzählt das zweite (Vasen-) Bild. Zu sehen ist, mit der Angabe von Quadermauerwerk etwas sorgfältiger ausgeführt, dieselbe Wohnung des Helden. Vor ihr steht, in englischer Geduld, eine lange Reihe Mädchen, während man aus dem geöffneten Fenster ein Stöhnen hört "Ogottogott - schon drei Uhr früh und noch achtunddreißig".

Dass der Held seine nächtlichen Pflichten reduzierte, ist dem folgenden Bild zu entnehmen. "Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du erst in sechs Wochen drankommst" tönt es nun ärgerlich aus besagtem Fenster. Sechs Wochen sind eine lange Wartezeit! Die vierte Zeichnung könnte bei der Zuordnung der Episoden zu einem der bekannten Mythen eine Hilfe sein. Sie zeigt außerdem eine antike Lösung im Umgang mit gefährlichen Hunden. Leinen- und Maulkorbpflicht? Nein! "Kerberos, zum letzten Mal: Man beisst keine Königstöchter! Noch ein einziges Mal, und du kommst wieder in den Hades!" hört man den Helden drohen.

Abb. 3
Abb. 3

Abb. 4
Abb. 4

Bleibt die Frage, mit welchen Königstöchtern Herakles die Nacht - oder die Nächte - verbrachte.

  • Von den lemnischen Weibern, den Männermörderinnen, hielt sich der Held fern - anders als die Gefährten auf der Argo.
  • Die tegeatische Prinzessin Auge war allein im Heiligtum, als Herakles ihr im Rausch Gewalt antat.
  • Nur zwei Schafe und Rinder hütende Töchter des Helios nennt der Mythos; nur drei oder fünf Hesperiden, Töchter der Nacht, Bewacherinnen der goldenen Äpfel.
  • An Omphales Hof blieb der Heros immerhin drei Jahre - kein Grund für einen Kraftakt in einer einzigen Nacht.
  • Hippolyte und ihre wehrhaften Freundinnen in den Augiasstall zu schicken, hätte die Fähigkeiten selbst eines Herakles überfordert.
  • Die ältlichen Schwestern des Eurystheus, sozusagen des Helden Tanten ?!!

So bleiben die Töchter des Nereus, die Mädchen der Salzflut. Homer (Ilias 18, 38), Hesiod (Theogonie 243 ff.), Apollodor (1, 27) und Vergil (Georgica 4, 336) kennen immerhin 93 Nereiden mit Namen. . . .

Die Bilder aber, die entscheidend die nächtlichen Freuden der liebreizenden Nymphen ans Licht brachten, verdanken wir dem Jubilar.

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