ANDREAS MEHL  
Archäologie und Geschichte
oder: die Suche nach dem Ort einer Schlacht

Du wirst Dich, lieber Robert, vielleicht an die beiden 1987 und 1988 im Südtiroler Bergdorf Campill von Dir und mir gemeinsam durchgeführten archäologisch-althistorischen Ferienseminare erinnern. Am Ende des ersten Seminars ("Hellenismus in Vorder- und Mittelasien") überreichten mir die Teilnehmer einen Stein, dessen eine Seite Reste einer Beschriftung trug. Es handelte sich um ein Bruchstück eines weggeworfenen Grabsteines des 20. Jh. aus Campill; beschriftet war er selbstverständlich im lateinischem Alphabet. Nichtsdestoweniger hatten die Studenten, vor allem der - auch - diesbezüglich versierte Burkhard Meißner, jetzt Privatdozent und Oberassistent in Halle, die Textreste zu einer griechischen Inschrift ergänzt, in welcher der in Deiner genauso wie in meiner Forschung und überdies auch im damaligen Ferienseminar wichtige Herrscher Seleukos Nikator genannt war. Der Stein hat übrigens, nachdem ich ihn als Bus- und Bahnreisender nach Hause geschleppt hatte, später unseren Umzug von Heppenheim nach Buckenhof mitgemacht und befindet sich in unserem Garten. Ich habe damals sogleich diese Leistung der Seminarteilnehmer bewundert und ich bewundere sie auch noch heute: Denn es ist ihnen gelungen, die lateinischen Buchstaben und deren Reste überzeugend als Zeichen der griechischen Schrift umzudeuten und sprachlich und formelmäßig 'nach den Regeln der Kunst' zu einer frühhellenistischen Inschrift zu ergänzen. Damit lokalisierten sie einen Feldzug des in der Nachfolge Alexanders des Großen fast ausschließlich in Vorder- bis Mittelasien tätig gewesenen und erst unmittelbar vor seinem unerwarteten Tod durch Ermordung nach Südosteuropa zurückgekehrten Seleukos Nikator in den mitteleuropäischen Alpen. Großartig! - Aber was soll das hier in einem bescheidenen Beitrag zu Deiner Festschrift, in einem Beitrag mit dem andererseits nicht so bescheidenen Titel "Archäologie und Geschichte"?

Ich möchte, wenn möglich zu beiderseitigem Nutzen, einige Gedanken zum wechselseitigen Verhältnis zwischen Klassischer Archäologie und Alter Geschichte niederlegen. Daß ich die Überschrift durch die Weglassung von "Klassisch" und "Alt" weiter gefaßt habe, ist die Folge meiner Überzeugung, daß ich Aussagen treffe, die über Dein Fach und meines hinaus generell für das Miteinander archäologischer und historischer Disziplinen gelten. Aber nochmals: Was soll die gerade von mir wiedergegebene Geschichte um die 'Seleukos'-Inschrift von Campill? Geschichte läßt sich wunderbar fingieren. Bei solchen Manipulationen resultiert besonders große Überzeugungskraft aus der Herbeiziehung eines - angeblichen - Dokumentes. Das hat man schon in der Antike gewußt und des öfteren entsprechend gehandelt, zu schweigen von gefälschten mittelalterlichen Schenkungs- und Privilegierungsurkunden bis hin zur "Konstantinischen Schenkung" und zum Habsburgischen "Privilegium Maius" - letzteres für Dich als Wiener von unmittelbarem Interesse. Insofern Verdacht an der Echtheit einer historischen Urkunde aufkommt, schwindet dieser leicht oder doch leichter, sobald ein Dokument Teil eines Gegenstandes oder ein solcher selbst ist: Die körperliche Existenz einer Sache bürgt - scheinbar - für die Glaubwürdigkeit auch mit diesem Gegenstand verbundener immaterieller Gegebenheiten. Das läßt sich noch steigern: dann nämlich, wenn der als Beweismittel dienende Gegenstand lange Zeit unberührt in der Erde geruht hat, damit vor unkontrollierbaren, ihn etwa verändernden Zugriffen sicher gewesen und erst moderner wissenschaftlicher und somit, wie man meint, grundsätzlich zuverlässiger Bearbeitung zugänglich geworden ist. Nun sind wir bei der Archäologie angelangt und wollen zugleich das spannende Kapitel "Fälschungen" hinter uns lassen und uns mit den vermutlich viel häufigeren unbeabsichtigten Fehldeutungen und unsicheren, aber allzu oft für sicher gehaltenen Deutungen zwischen Archäologie und Geschichte befassen.

'Historisch' bedeutet immer auch 'chronologisch', denn ohne Zeit und Zeitablauf gibt es kein Geschehen, somit keine Geschichte. Eben deswegen ist die chronologische Fixierung eines früheren Geschehens neben dessen örtlicher und personaler Zuordnung sowie der Klärung von Art und Ablauf der zugehörigen Handlung notwendige Voraussetzung, um Vergangenes erfassen und festhalten zu können. Daher stelle ich nun die Frage: Was besagen ausgegrabene oder zufällig zu Tage getretene Funde und Befunde zurückliegender Zeiten für die Chronologie historischer Ereignisse und was besagen sie eventuell gerade nicht? Und ich füge die Frage an: Was ergibt sich aus der Verknüpfung der Deutung archäologischer Funde und Befunde mit Deutungen anderer, insbesondere literarischer Aussagen über historische Ereignisse für die historische Chronologie und über diese für die Identifizierung eines historischen Geschehens?

Mein nun vorzuführendes - in seinen Grundzügen weithin bekanntes - Beispiel soll auch, lieber Robert, ein Gruß aus meinem Akademischen Standort im 'freien' Germanien zu dem Deinigen in der Hauptstadt der römischen Provinz Germania Superior sein. Daß von Münzen die Rede sein wird, magst Du als Hommage Dir gegenüber auffassen, der Du ja hellenistische, insbesondere seleukidische Herrscherbildnisse über Münzen erarbeitet hast. Auf den ersten Blick scheint mein Beispiel im Gegensatz zu meinen letzten Sätzen indes keines der Chronologie, sondern eines der Ortskunde zu sein, doch die Verknüpfung von Personen, Ort und Zeit sowie von Art und Vollzug der Handlung in jedwedem Geschehen wird uns schließlich gerade auch zur Chronologie führen: Um die Lokalisierung der für das Römische Reich folgenreichen Niederlage mehrerer Legionen unter Varus gegen ein germanisches Bündnis unter Arminius 9 n. Chr., also der berühmten "Schlacht im Teutoburger Wald", bemühen sich seit über einem Jahrhundert Fachleute und Laien gleichermaßen. Die Schlacht wird irgendwo in der damals neuen römischen Provinz Germania lokalisiert: zumeist zwischen Niederrhein und Weser entweder nördlich der westdeutschen Mittelgebirge oder in deren nördlichen Ausläufern, von einigen aber auch zwischen Weser und Elbe und dabei unter anderem auch in der - zugegebenermaßen - weiteren Umgebung von Halle (!). Einigkeit über den Schlachtort ist dabei nicht erreicht worden: Denn wenn die antiken schriftlichen Berichte und Erwähnungen, insbesondere bei den Geschichtsschreibern Velleius Paterculus, Florus, Tacitus und Cassius Dio, an den Personen, dem Jahr und dem Kampfgeschehen keine Zweifel aufkommen lassen, so geben sie doch keine genaue Lokalisierung des Schlachtortes. Dieses Negativum gilt sowohl innerhalb zeitgenössischer geographischer Vorstellungen als auch unter Zugrundelegung modernen geographischen Raumverständnisses. Daher hilft es auch nichts, wenn man mit den antiken Schriftquellen in der Hand und im Kopf die nicht ganz kleine Landschaft zwischen Niederrhein und Weser oder gar Elbe bereist. Die Ungenauigkeit der schriftlichen Überlieferung hat im vorliegenden Fall wohl drei Ursachen: die Rhetorisierung antiker Literatur mit der dabei in Kauf genommenen, ja beabsichtigten Hintanstellung von Genauigkeit, konkrete Unkenntnis der Gegend bei den genannten antiken Autoren und bereits in deren Vorlagen und schließlich der historische Umstand, daß nach den literarischen Quellen die Varus-Schlacht keine geplante Feldschlacht auf vorab definiertem Gelände gewesen ist, sondern sich als Mischung von Lager, Marsch und wiederholten Kämpfen über eine längere Strecke in unwegsamem Gelände hingezogen hat, in einer Gegend überdies, welche die Römer offensichtlich noch nicht vermessen und in ein weitflächiges Vermessungsraster eingepaßt hatten.

Da die antike Literatur das moderne Bedürfnis, die Varus- oder "Hermannschlacht" zu lokalisieren, also nicht befriedigen kann, nimmt man schon seit langem Bodenfunde und -befunde zu Hilfe: Hat sich dadurch die Zahl der potentiellen Schlachtorte verringert, wurde gar ein sicherer Schlachtort gefunden? Über Jahrzehnte hin sah es nicht danach aus; dann wurde bei Kalkriese in der Gegend von Osnabrück und Bramsche am Übergang des Wiehengebirges in mooriges Flachland eine schon von Theodor Mommsen aufgrund dort zufällig gefundener zeitlich passender Münzen vorgeschlagene Örtlichkeit archäologisch erforscht. Der Nachweis, daß dort Varus mitsamt vielen seiner Soldaten Niederlage und Tod fand, ist erbracht worden - ist er wirklich erbracht worden? Bereits die Tatsache, daß der literarischen Überlieferung zufolge schon im Jahr nach der Niederlage des Varus und dann alljährlich bis 16 n. Chr. erst unter dem Oberbefehl des Tiberius und dann des Germanicus zwischen Niederrhein und Weser oder Elbe erneut römische Truppen marschierten und, teilweise wiederum unter starken Verlusten, kämpften, läßt zumindest hypothetisch die Möglichkeit offen, daß in Kalkriese nicht Spuren der "Schlacht im Teutoburger Wald", sondern die eines dieser letzteren Kämpfe aus der Erde geholt worden sind. Nun sind wir bei der historischen Chronologie angelangt: Zu fragen ist hier, wie genau sich archäologische Funde und Befunde datieren lassen; denn nur eine präzise Datierung archäologischer Befunde in das Jahr 9 n. Chr. läßt die Zuordnung der Varusniederlage zu einer Örtlichkeit zu. Daß im vorliegenden Fall zur Datierung der aufgedeckten Funde und Befunde nicht auf das Datum der Varusschlacht nach der literarischen Überlieferung zurückgegriffen werden darf, ist offenkundig, weil so die örtliche Gleichsetzung des archäologischen Fundortes mit dem Ort der Varusschlacht statt bewiesen bereits vorausgesetzt würde.

Ein Archäologe ist sich zumeist dessen bewußt, daß Datierungen mit rein archäologischen Gegenständen und Mitteln nur eingeschränkt möglich sind bzw. zu nur unpräzisen Zeitangaben führen. Daher greifen Archäologen gern zu außerarchäologischen Hilfsmitteln und zu solchen, in denen sich genuin Archäologisches mit Außerarchäologischem verbindet. Ein beliebtes Mittel der letzteren Art sind Münzen in ihrem jeweiligen Fund- und Ausgrabungszusammenhang - damit hat ja, wie ich hier bereits mitgeteilt habe, Theodor Mommsen Kalkriese als den Ort der Varusschlacht identifiziert bzw. zu identifizieren versucht. Freilich weiß man auch, daß man zu solcher Festlegung verläßlich datierter Münzen bedarf und daß auch im positiven Fall sich hierdurch nur ein unscharfer Terminus post quem, ausgehend von der am spätesten datierten Münze im Fundgut, gewinnen läßt. Gerade das reicht aber für die Gleichsetzung eines Ereignisses mit einem durch andere Quellen jahrgenau datierten Geschehnis nicht aus. Im Fall der Varusschlacht ist zudem zu berücksichtigen, daß nach Tacitus wenige Jahre später, im Jahr 15 n. Chr., ein römisches Heer unter dem von mir bereits genannten Germanicus mit der Hilfe von Überlebenden den Ort der Varusschlacht im "Teutoburger Wald" aufsuchte, um der bisher unbestatteten Römer zu gedenken und deren Überreste zu bestatten. Das aber heißt nichts anderes, als daß der Schlachtort keinen ungestörten Befund des Jahres 9 n. Chr., sondern einen gemischten Befund von Ereignissen und Tätigkeiten der Jahre 9 und 15 n. Chr. zeigen muß.

Dieses Erfordernis wird sich an jedem für die Varusschlacht angenommenen Ort folgendermaßen in den Fundmünzen niederschlagen: Es ist nicht nur mit Stücken der Prägezeit bis 9 n. Chr., sondern auch mit solchen der Prägezeit zwischen 9 und 15 n. Chr. zu rechnen. Münzen der Prägejahre 10 bis 15 n. Chr. müssen in jedem Fall Soldaten des Germanicus zugewiesen werden. Da davon auszugehen ist, daß die entsprechenden Münztypen in den nächsten Jahren nicht aus dem Verkehr gezogen worden sind, lassen sich aber auch Fundstücke mit Prägedatum spätestens 9 n. Chr., einschließlich von Exemplaren mit dem Gegenstempel "VAR" für "Varus", wie sie bei Kalkriese zutage getreten sind, nicht ausschließlich Soldaten des Varusheeres zuweisen, sondern sie können sehr wohl auch Soldaten des Germanicus-Heeres gehört haben. Und schließlich können und werden Münzen sowohl des früheren als auch des späteren Prägezeitraumes zwar an jenem Ort in die Erde gelangt sein, an dem die Varusschlacht ausgefochten worden ist, sie können ihren Fundort aber nicht zwangsläufig als die Örtlichkeit der "Schlacht im Teutoburger Wald" ausweisen: Denn wie ich bereits erwähnt habe, waren das Heer des Tiberius und danach das Heer des Germanicus bzw. davon detachierte Abteilungen in den Jahren 10 bis 16 n. Chr. östlich des Niederrheins mehrfach und an von den literarischen Quellen her und auch archäologisch ebenfalls nicht identifizierten Orten in Kämpfe mit Germanen verwickelt. Dabei erlitten die Römer in der Zeit des Oberbefehls des Germanicus teilweise spürbare Verluste, die am jeweiligen Schlachtort entsprechende militärische Funde und Befunde zur Folge gehabt haben können oder müssen. Daher erbringen Münzfunde der von mir genannten Prägejahre im Fundzusammenhang mit menschlichen und dinglichen Überresten eines römischen Heeres für den Ort der Varusschlacht nichts: Sie können einem Ort diese Zuschreibung weder sichern noch diesen davon ausschließen. Was bleibt, ist also Ungewißheit, allgemein und konkret: Kalkriese kann nach den Münzen und den sonstigen Funden sowohl der Ort der Varusniederlage als auch einer der etwas späteren Schlachten und Kämpfe zwischen Römern und Germanen sein. Angesichts dieser Situation kann die Örtlichkeit der Varusniederlage archäologisch wohl nur nachgewiesen werden, indem man - was freilich bereits nach den antiken Berichten und Erwähnungen unmöglich ist - ein Skelett eines Mannes mit einem Namensschild "Varus" fände, also durch den Einschluß eines epigraphischen Dokumentes mit bestimmtem Inhalt in den Grabungsbefund.

Nun mag die genaue Festlegung des Ortes der "Schlacht im Teutoburger Wald" für Lokalhistoriker wichtig sein, für Althistoriker ist sie es nicht: Um die Konsequenzen, die die Römer, d. h. zuerst Augustus, aus dieser Niederlage gezogen haben, zu verstehen, bedarf es nur der Sicherheit, daß diese Schlacht auf dem Territorium der damals neuen römischen Provinz Germania geschlagen worden ist und daß die Provinz sich mit dem germanischen Erfolg als tatsächlich noch nicht unterworfen erwiesen hat. Diese Sicherheit ist bereits mit der geographisch vagen Lokalisierung der Varusniederlage zwischen Rhein und Elbe vorhanden. Man könnte daher als Althistoriker die ganze Diskussion um die "Schlacht im Teutoburger Wald" ad acta legen. Mir scheint indessen, daß die Suche nach dem Schlachtort und dessen vermeintliche Auffindung ein Lehrstück ist - ein Lehrstück für einige leider negative Erkenntnisse: Aus dem sicheren Wissen um drei der vier für die Konstituierung eines konkreten unverwechselbaren Geschehens notwendigen Elemente Ort, Zeit, Personen und Handlung ergibt sich die Kenntnis der tatsächlichen und nicht nur hypothetischen Beschaffenheit des vierten Elements auch dann nicht ohne weiteres, wenn man letzteres aus einer anderen Quelle bzw. Quellengattung zu entnehmen versucht. Man kennt ein historisches Geschehen vielmehr erst dann vollständig und ohne Risiko der Verwechslung mit einem anderen Geschehen, wenn man aus derselben Quelle, zumindest aber aus einem Ensemble eindeutig aufeinander bezogener Quellen genaue und verläßliche Angaben für alle vier Elemente eines Geschehens erhalten hat. Wenn man dann aus einer weiteren Quelle unabhängig von der zuerst gebrauchten Quelle Sicherheit für drei der vier Elemente gewonnen hat und Übereinstimmung zwischen diesen Angaben und den Angaben zu drei von den vier Elementen in der ersten Quelle erkennt, kann das vierte Element der ersten Quelle in die Aussage der anderen Quelle hinein ergänzt werden, und das Ergebnis wird mit großer Wahrscheinlichkeit die historische Situation treffen.

Bezüglich der "Schlacht im Teutoburger Wald" läßt sich dieses Verfahren jedoch nicht anwenden; denn der einen Quellengruppe, den literarischen Berichten, fehlt von den vier Elementen eines Geschehens eine präzise Ortsangabe, während der anderen Quellengruppe, dem archäologischen Befund unter Einschluß der Münzfunde, eine genaue Datierung und überdies die Eindeutigkeit der historischen einmaligen Handlung mit den an ihr teilhabenden Personen fehlen. Der archäologische Befund von Kalkriese gibt jedenfalls nur die allgemeine Aussage her, daß hier Römer in großer Zahl gekämpft haben und daß dabei etliche von ihnen umgekommen sind. Dort, wo nach meinen Ausführungen von den vollständigen Angaben einer Quelle auf die nicht ganz vollständigen Angaben einer anderen Quelle geschlossen werden darf, kann man im übrigen die daraus zu ziehenden Vorteile nicht gar so hoch einschätzen; denn fehlendes Wissen über auch nur eines der vier Elemente eines Geschehens kann man dadurch gerade nicht kompensieren. Möglich und auch wahrscheinlich ist lediglich, daß aus zwei oder mehreren Quellen zusammen über Ausgestaltungs- und Ausschmückungsdetails der vier Elemente eines Geschehens oder eines Teils von diesen mehr zu erfahren ist als aus nur einer der Quellen allein.

Für das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft, deren Wissen grundsätzlich aus schriftlicher Überlieferung gewonnen wird, und Archäologie, die ihr Wissen aus handgreiflichen Gegenständen und deren technischer und ästhetischer Gestaltung bezieht, folgt leider, daß archäologische Funde und Befunde, sei es allein, sei es in Kombination mit den in der Geschichtswissenschaft üblichen, d. h. schriftlichen Quellen, Bedürfnisse der Geschichtswissenschaft nach dem Wissen um Zeit, Ort, Personen und Handlung eines Geschehens der Vergangenheit zumeist nicht wird erfüllen können. D. h. die Archäologie ist nicht sonderlich geeignet, Wissenslücken in der Ereignisgeschichte aufzufüllen. An die Adresse meiner Zunft gerichtet, folgt daraus: Wir Historiker sollen nicht falsche Erwartungen an unser Nachbarfach und an dessen Vertreter richten. Umgekehrt sollen Archäologen nicht etwas leisten wollen, was ihr Fach nicht leisten kann. Daß dennoch beides, und zwar gar nicht so selten, geschieht, zeigen mancherlei Beispiele, unter anderem in jüngerer Zeit 'Kalkriese'.

Das alles ist nun viel mehr negativ als positiv; und es mag verwundern, daß dies ausgerechnet aus der Feder eines (Alt)Historikers kommt, der selbst immer wieder auch mit archäologischen Quellen arbeitet. Überdies scheint es der Erfahrung zu widersprechen, daß es fast unendlich viele Berührungspunkte und Überschneidungsflächen zwischen Archäologie und Geschichte gibt. Für letzteres legen von archäologischer Seite gerade etliche Deiner Arbeiten, lieber Robert, Zeugnis ab. Dennoch sind die von mir gemachten Einschränkungen gültig. Andererseits lassen sie genug Positives im Verhältnis zwischen Archäologie und Geschichte bestehen: Man muß sich als Historiker nur darüber im klaren sein, daß die aus der Archäologie zu ziehenden Vorteile kaum jemals in der besseren Erkenntnis einzelner historischer Geschehnisse liegen, sondern in dem besseren Wissen um größere Zusammenhänge der allgemeinen Geschichte und in überreichlichem Maß um Einzelheiten und komplexere Gegebenheiten der - begrifflich weit gefaßten - Kulturgeschichte. Für immer wieder erbrachte Hilfen zum historischen Verständnis in diesen Bereichen dürfen und müssen wir (Alt)Historiker den (Klassischen) Archäologen allgemein und Dir, lieber Robert, im besonderen dankbar sein.

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