L. BOUKE VAN DER MEER  
Kassandra in Etrurien

Lieber Herr Prof. Dr. R. Fleischer,

Dieser Artikel ist Ihnen gewidmet. Ich bin Ihnen 1998 begegnet, auf einem klassisch-archäologischen Kongreß in Amsterdam. Sie betreuten damals auf charmante Weise zwei Doktorandinnen und einen Doktoranden, die Vorträge hielten, denen ich vorsitzen durfte. Darum, und weil Sie an Bronzen, Göttinnen und Klagefrauen interessiert sind, habe ich ein Thema gewählt, das in der Antike nicht nur alte Männer, sondern auch junge Frauen begeistert hat.

Etruskischer Spiegel
Abb. 1. Etruskischer Spiegel. Sankt Petersburg, Eremitage, Inv. B - 509
(nach Charsekin 1963 Abb. 12 und 12a)

Von den circa 1500 etruskischen Bronzespiegeln mit mythologischen Darstellungen tragen ungefähr dreihundert Inschriften. Diese sind äußerst wichtig, weil sie ein Licht auf die Rezeption griechischer Mythen in der etruskischen Kultur werfen. Viele zeugen von einer interpretatio etrusca, also der Anpassung griechischer Vorbilder an den etruskischen Geschmack. (1) Nicht alle epigraphischen Darstellungen sind bis jetzt gedeutet, auch nicht die Darstellung auf einem Spiegel unbekannter Herkunft in Sankt Petersburg, Eremitage, Inv. B 509 (Abb. 1). (2) Der Durchmesser des Spiegels beträgt 18 Zentimeter. Der untere Teil fehlt. Aufgrund der Größe kann es sich nicht um einen Griffspiegel, sondern nur um einen Spiegel mit einem Griffzapfen handeln, einen Typus, der in die zweite Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr. datiert wird. In jener Zeit sind indirekte lysippische Einflüsse wahrnehmbar, die sich u.a. in langen Figuren äußern. Unser Spiegel darf ans Ende des vierten Jahrhunderts datiert werden. Die Hauptszene zeigt fünf Personen vor einem Gebäude. Die Inschriften befinden sich am oberen Rand der Scheibe, nicht exakt über den Figuren, sondern etwas zentriert. Ganz rechts sitzt auf einem Felsen ein alter halbkahler Mann, Priumne (gr. Priamos) genannt, der alte König Trojas. Er beobachtet, sich mit zwei Händen auf einen Stab stützend, nachdenklich mit dem rechten Zeigefinger den Bart berührend, eine fast nackte Frau ganz links, Cast[ra] (gr. Kassandra) genannt, die anscheinend sitzend dargestellt wird. Ihre rechte Hand stützt sich auf Felsen, mit ihrem linken Zeigefinger berührt sie ihr Kinn. Ihr Mantel bedeckt nur den Rücken, die linke Schulter und den linken Oberschenkel. Der rechte, mit einem Schuh bekleidete, Fuß ist nach vorn gestellt. Weiter trägt sie ein pyramidenförmiges Ohrgehänge und eine Halskette. Neben ihr steht ein nackter junger Mann mit Chlamys, die rechte Hand in der Seite, einen Speer in der linken hochgehobenen Hand. Er heißt Ziumithe (gr. Diomedes). Neben ihm, teilweise vor dem linken Arm, steht eine nackte Frau, Thethis (gr. Thetis) genannt. Sie trägt, wie Kassandra, Schuhe, Kette und Ohrgehänge. Mit der linken Hand hebt sie ihren Mantel, der den Rücken und den linken Unterschenkel bedeckt. Zwischen Thetis und Priamos steht im Hintergrund Ec[a]pa (dorisch gr. Hekaba). Ein Mantel oder Schleier bedeckt ihren Kopf. Sie trägt ein Diadem. Mit der rechten Hand weist sie nach rechts. Ganz links und rechts sind Felsen zu sehen.

Von der Fassade des Gebäudes im Hintergrund sind nur der Architrav und rechts ein tuskanisches Kapitell zu sehen. Die Metopen des dreiteiligen Architravs sind mit rosettenartigen Ornamenten dekoriert. Im oberen Segment, teilweise vor dem Architrav, schwebt nach links eine bekleidete, geflügelte Frau mit einem Alabastron in der linken und einem Parfumstab in der rechten Hand. Auch sie trägt eine Halskette. Im allgemeinen wird sie als Lasa gedeutet, eine Nymphe, die zum Kreis der Turan (gr. Aphrodite) gehört. (3)

Im unteren abgebrochenen Segment, unter unregelmäßigen Bodenlinien, sind nur noch drei Flügelspitzen oder Mähnenbündel (?) und Felsen erkennbar. E. V. Mavleev glaubt, daß im verlorenen Teil des Segments Herakles und die Pferde des Diomedes abgebildet waren. (4) In der Regel aber sind Diomedes' Pferde nicht geflügelt. Leider muß wegen des Fehlens guter Parallelen die Rekonstruktion der unteren Szene offen bleiben.

Der Spiegel gehört zu einer Gruppe, die wegen der Buchstaben und Fundorte auf jedem Fall in Südetrurien verfertigt worden ist, wahrscheinlich in der Umgebung von Orvieto. (5) Er ist der direkte Vorläufer von Griffspiegeln mit einer dreizonigen Darstellung und Randinschriften. M. Cristofani nennt, nach dem Vorbild von G. Manselli und S. Haynes, in seiner Serie A zwei stilistisch verwandte Spiegel, ES 398 und ES 374, die in meine ikonographische Analyse einbezogen werden. (6) Mikroskopische Untersuchungen wären erforderlich, um festzustellen, ob die Dreiergruppe von ein und demselben Meister graviert wurde.

Die Hauptszene des Petersburger Spiegels ist, wie auch aus dem LIMC hervorgeht, bisher nicht befriedigend gedeutet worden. (7) Es gibt keine ikonographischen Parallelen. Der Name Ecapa weist entweder auf einen sprachlichen Kontakt mit dem dorischen Apulien hin oder auf ein visuelles großgriechisches Vorbild mit dorischen Inschriften. Gerhard und andere Forscher hatten die Neigung, solche nichtnarrativen Darstellungen als Konversationsszenen, manchmal mit irrigen Inschriften, zu deuten. Meiner Meinung nach ist eine lectio difficilior möglich. Ob die Themen der Segmente sich auf die Hauptvorstellung beziehen, muß vorläufig offen bleiben. In den meisten Fällen gibt es keine Beziehung.

Was bedeutet die Hauptszene? Stellt sie ein bestimmtes mythisches Ereignis dar? Die Meinungen sind geteilt. Leider hat Juliette Davreux in ihrer großen Monographie über Kassandra diesen Spiegel nicht gekannt. (8) In ihrem neuesten Buch suggeriert Françoise-Hélène Massa-Pairault, ohne Argumente anzugeben, daß ein Liebesverhältnis zwischen Kassandra und Diomedes dargestellt sei. (9) Die antike Literatur berichtet nichts über eine derartige Liebschaft. E. V. Mavleev meint, daß die großen in Volsinii veteres hergestellten Spiegel als diplomatische Geschenke an andere Städte in der Periode der samnitischen Kriege gesandt wurden. (10) Inhaltlich aber läßt sich aus den Darstellungen keine anti-römische Propaganda erschließen. Es gibt keine klaren Indizien auf Spiegeln, daß die Trojaner mit Römern gleichgestellt wurden, obwohl die Römer doch ihre "roots" um 300 v. Chr. auf den trojanischen Aeneas zurückführten. Übrigens ist meiner Meinung nach politische Propaganda auf Boudoirartikeln auch nicht zu erwarten.

Wenn die Inschriften richtig sind, sehen wir zwei griechische Personen, nämlich Diomedes und Thetis, die Mutter des Achill, zwischen drei Trojanern, links Kassandra, die Unheilsprophetin, und rechts Priamos, König der Trojaner und dessen Gattin. Ihr Verhülltsein deutet ihren ehelichen Status an.

In der antiken Literatur wird man vergebens eine mythische Erzählung suchen, in der die fünf genannten Personen zusammen vorkommen. Damit scheint die Erklärung der Szene schwierig zu sein. Der Graveur kann die Darstellung aus verschiedenen Gründen gewählt haben. Erstens sind Geschichten aus dem trojanischen Zyklus auf Spiegeln sehr beliebt, viel mehr als die aus thebanischen und anderen Zyklen. Zweitens muß der Künstler gewußt haben, daß Kassandra, wie Homer schreibt, die schönste Tochter des Priamos war. (11) Sie ist, wie Thetis, als eine wahre Schönheit wiedergegeben. Ihr Charme wird vielleicht noch betont von der Lasa oben, die auffallenderweise ihr zugewandt ist. Liegende oder schwebende Segmentfiguren sind aber öfter nach links gewandt. Drittens sei erwähnt, daß die Aufmerksamkeit der anderen Figuren auf Kassandra gerichtet ist. Sie muß die Hauptperson sein. Kassandra und Priamos zeigen sich verunsichert. Ihre Gebärden lassen das erkennen. Das impliziert, daß Kassandra gerade etwas Schockierendes prophezeit hat. In den mythologischen Erzählungen warnt sie ihren Vater oft vor Gefahren (vor Paris, Helena, dem hölzernen Pferd usw.). Es scheint, als habe der Graveur nicht ein bestimmtes Ereignis gemeint, sondern mehr die Warnung der Unheilsprophetin vor der Gefahr eines Krieges mit den Griechen und vor dem Untergang Trojas im allgemeinen. Schließlich sei erwähnt, daß manchmal Lasa (z. B. Lasa vecu=die Nymphe Vegoia) prophetische Gaben hat. Ihre Attribute aber sprechen gegen eine solche Funktion in diesem Kontext.

Dann stellt sich die Frage, warum speziell Diomedes und Thetis als Vertreter der Griechen en face abgebildet sind. Verschiedene Faktoren könnten hier eine Rolle spielen. Zum Beispiel Thetis' Schönheit und ihre prophetischen Gaben. Sie sagte ihrem Sohn den Tod in Troja voraus. Etrurien kannte übrigens ein Thetys-Orakel. (12) Wir wissen nicht, ob diese lokale Göttin irgendwie mit der griechischen Thetis assimiliert ist. Aber viel wichtiger ist, daß, wie bekannt, die Hochzeit von Peleus und Thetis mit dem diabolischen Auftreten der Eris eigentlich der Beginn von Trojas Untergang war. Thetis war auch die Mutter des Achill, des Protagonisten im genannten Krieg.

Diomedes' Anwesenheit ist problematischer; das gilt aber auch für seine Präsenz auf anderen Spiegeln, z. B. auf einem im Schloß Fasanerie bei Fulda aufbewahrten mit einer ungewöhnlichen Darstellung des Liebespaars Turan und Atuni[s] (Aphrodite und Adonis), das ganz links und rechts von zwei Männern flankiert wird. S. Haynes meint, daß hier der Augenblick der Trennung dargestellt sei: Atunis werde sogleich zum Hades geholt. Der mit einer Lanze bewaffnete Mann rechts ist Z[iu]mith[e], also Diomedes, der sonst nicht zusammen mit dem genannten Paar vorkommt. Ursula Höckmann suggeriert, daß Ziumithe dem etruskischen (Kriegs-) Gott Laran (gr. Ares) entspreche. (13) Es könnte also ein Irrtum vorliegen oder der Graveur hat Diomedes als einen göttlichen, starken Mann gesehen. Auf dem Petersburger Spiegel könnte er zum Beispiel anstelle Achills wiedergegeben worden sein, als Held par excellence, weil schon Achills Mutter anwesend ist.

Es gibt aber Darstellungen, die in eine andere Richtung weisen. Ein Inschriftenspiegel der sog. Kranzspiegelgruppe aus Caere (Cerveteri) zeigt uns von links nach rechts Ziumithe, Menerva, Cas[tr]a und Uthste. Davreux hat die Szene so gedeutet, daß die Szene den Moment vor dem Raub des Palladion durch Diomedes und Odysseus wiedergibt. (14) Dafür spricht auch eine pompejianische Malerei mit Inschriften, die links den Raub des Palladion durch den genannten Heros in Anwesenheit von Helena und Aithra zeigt und rechts wahrscheinlich eine ekstatische Kassandra mit Fackel und eine Dienerin, die soeben den Raub entdeckt haben. (15) Eine andere Erklärung könnte sein, daß, wie Pausanias berichtet, ein gewisser Koroibos den Trojanern zu Hilfe kam und sich in Kassandra verliebte. Er wurde von Diomedes getötet. (16)

Die nach Cristofanis Meinung am nächsten verwandten Spiegel sollten auch in die Analyse mit einbezogen werden. Der dreizonige Spiegel ES 398 aus Caere (BM) zeigt, wie ein wütender Menelaos seine untreue Frau zu töten versucht. (17) Weil aber die Schönheit seiner Gattin, insbesondere ihre Brüste, seine Rachegefühle überwinden, sehen wir ein happy end. Thethis (gr. Thetis) anstelle der Turan oder des Eros hält ihn zurück. Ganz rechts stehen Aivas (gr. AiFas) und Phulphsna (gr. Polyxena) als Zuschauer. Die Wahl dieser Zuschauer mag nicht ganz zufällig sein. Im Gegensatz zu Helena sterben (der kleine) Aias und Polyxena später. Der andere anepigraphische Spiegel (ES 374), ein tertium comparationis im Allard Pierson Museum zu Amsterdam, stelle nach Meinung von Frau J. T. Smit-Lub ein Dilemma dar: Helena zwischen ihrem künftigen Entführer Alexandros/Paris und ihrem Gatten Menelaos. (18) Es mag sein, daß die seelische Stimmung, die Verzweiflung und Unsicherheit Helenas das Hauptmotiv der Szene sind. In diesem Fall sind die chronologisch folgenden Szenen, Menelaos' Abzug und Paris' Ankunft in Sparta, synchronisiert.

Die Kette der Fatalität ist auch sichtbar auf einigen dreizonigen Spiegeln mit ikonographischem Programm. Das schönste Beispiel zeigt ein Exemplar aus Todi. (19) Im Hauptbild steht das Urteil von Elchsntre (gr. Alexandros) im Mittelpunkt. Elchsntre wird von einem alten bärtigen Mann mit Szepter, Techrs (gr. Teukros) genannt, ermutigt. Teukros war der erste König Trojas. Auf dem Spiegel ist er ein Anachronismus, aber aus dem Rest des ikonographischen Programms (Segmente mit Herakles' Selbstmord und Eos mit ihrem Sohn Memnon) wird deutlich, daß die fatale Kette der Geschichte Trojas geschildert wird. Teukros ist hinzugefügt, um die Geschiche dieser Stadt vom Beginn bis zum Ende zu schildern.

Wenn der Spiegel in Sankt Petersburg das Eigentum einer Frau gewesen wäre, was des thematischen Inhalts wegen und aus statistischen Gründen wahrscheinlich ist, mag sie von schönen femmes fatales, vom Schicksal und dilemmaartigen Situationen fasziniert gewesen sein. Thetis verkörpert den Beginn des trojanischen Krieges, Diomedes das Ende. Wenn Diomedes nicht ganz allgemein den kraftvollen Griechen bedeutet, kann mit ihm spezifischer entweder der zukünftige Dieb des Palladion oder der Mörder von Koroibos, einem der Liebhaber von Kassandra, gemeint sein. Das Gebäude wird den Palast des Priamos darstellen. In vielen Spiegelszenen griechischen Ursprungs, die auf etruskischen Spiegeln kopiert sind, gibt es keinen architektonischen Hintergrund. Dies ist ein Element, das von etruskischen Graveuren hinzugefügt wurde, wahrscheinlich um intimen Ereignissen eine häusliche Atmosphäre zu verschaffen.

Auch andere Abenteuer von Kassandra kommen auf Spiegeln vor. ES 3, 360 zeigt, wie sie ihrem Bruder Alexandros mit einer Axt droht, ein euripideisches Thema, dem man sehr oft in der etruskischen Kunst begegnet. Ein anepigraphischer, dreizoniger Spiegel, ES 5,2, 125, zeigt sie ekstatisch mit einer Fackel kniend auf einem Altar vor dem Tempel Apollos, bevor sie mit Agamemnon ehelich verbunden wird. Dieses Thema ist auch von Euripides in der Tragödie "Troerinnen" behandelt worden. Schließlich kommt Castra zusammen mit Capne (gr. Kapaneus), Evas (gr. AiFas) und Castur (gr. Kastor) auf ES 5, 87, 2 aus Sarteano vor.

Diese Konversationsszene scheint ohne tiefere Bedeutung zu sein und ein Beispiel für den allmählichen Prozeß der Entmythologisierung und der - wie es G. Camporeale nennen würde - Banalisierung.

Lieber Prof. Fleischer, ad multos annos feliciter!, wünscht Ihnen Ihr

L. Bouke van der Meer, Universität Leiden

Literatur
M. Cristofani, Il cosiddetto specchio di Tarchon: un recupero e una nuova lettura, Prospettiva 41 (1985) 4-20.
CSE=Corpus Speculorum Etruscorum
A.I. Charsekin, Zur Deutung etruskischer Sprachdenkmäler. Frankfurt am Main 1963.
J. Davreux, La légende de la profétesse Cassandre d'après les textes et les monuments, Paris 1942.
ES=Etruskische Spiegel, siehe Gerhard.
E. Gerhard - A. Klugmann - G. Körte, Etruskische Spiegel, I-V, Berlin 1840-1897.
Fr.-H. Massa-Pairault, La cité des Étrusques. Paris 1996.
A. Rallo, Lasa. Iconografia e esegesi. Firenze 1974.
L.B. van der Meer, Interpretatio etrusca. Greek Myths on Etruscan Mirrors. Amsterdam 1995.

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