WOLFRAM MARTINI  
"L'Arte di Gucci. Die hohe Kunst Frau zu sein".
Zur Abhängigkeit des Verstehens vom Wissen.

Es gehört m.E. zu den erfreulichen Ereignissen des Lebens, daß einem gelegentlich die Gegenstände des Fachs in überraschender Weise begegnen und sie dann zu Überlegungen anregen, die einen bisweilen selbst überraschen. Da, lieber Robert, Überraschungen zu Geburtstagen passen und die Gruppe der drei Grazien in reizvoller Weise die Epoche repräsentiert, in der Du es zu besonders hoher Kennerschaft gebracht hast, möchte ich Dir dieses hermeneutische Problem kredenzen und Dich einladen, darüber nachzudenken.

Es ist trivial, daß ganz allgemein das Verstehen eines bestimmten Inhalts von bestimmtem Wissen abhängig ist. Ein Bildwerk einer fremden Kultur muß dem dieser Kultur fremden Betrachter ebenso fremd bleiben wie ein fremdsprachiger Text dem der Sprache gegenüber Fremden. Das Fremde unterscheidet sich eben vom Bekannten durch seine Fremdheit und umgekehrt. Genauso trivial ist, daß das Fremde kein konstituierendes Merkmal eines Dings oder eines Inhalts ist, sondern lediglich eine relationale Eigenschaft in bezug auf den Rezipienten. Über je mehr Wissen der Rezipient verfügt, um so größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß sich sein Wissen auf das Ding oder den Inhalt erstreckt. Um unsere Trefferqualität zu steigern, spezialisieren wir uns daher ständig in dem einen oder anderen Sachgebiet, versuchen mit einem Minimum an Wissen ein Maximum an Verstehen in einem engsten Bereich zu gewinnen und tragen eifrig zu der Fiktion der Urteilskraft der Wissenschaft (deshalb nennt sie sich so) bei. Über diese Fiktion hat Ulrich Beck sehr Erhellendes und damit Lesenswertes ausgeführt (1), so daß ich mir weitere Bemerkungen dazu sparen kann.

Eng verknüpft ist damit der diskursive Charakter jedes Betrachtens und jeder Aussage, der unser Wissen ständig verändernd formt, wenn wir uns auf die Objekte unseres Interesses einlassen und sie nicht nur nach kanonischen Denkmustern befragen. Über die damit verbundenen Implikationen für unser Wissen hat Michel Foucault sehr intensive diskurstheoretische Überlegungen angestellt. (2) Aber das nur nebenbei als Andeutung meines persönlichen Standorts und um die so spannende und auch so unangenehme Frage zu artikulieren, was ist denn u. a. auch für unsere Wissenschaftspraxis daraus zu lernen, daß unser Verstehen so wissensabhängig ist?

Können wir nur verstehen, was wir schon wissen? Oder weniger überspitzt: Verstehen wir die Dinge nur gemäß unserem Wissen? Doch genug der Theorie, die nur die kritische Wachsamkeit gegenüber der folgenden Bildbetrachtung und ihren Deutungen schärfen soll.

Der Gegenstand (Abb. 1) (3): Ein Ausriß aus irgendeinem Journal, undatiert, unsigniert. Billiges Papier, etwa DIN A4-Format, Vierfarbendruck; Aufbewahrungsort unbekannt.

Gucci
Abb. 1: L'Arte di Gucci. Parfümwerbung.

Befund: rechts beschnitten; es fehlt offenbar ein Teil des Frauengesichts. Aus der zweizeiligen Beischrift ‚L'Arte di Gucci', die aufgrund der Wiederholung des Textes in der Schriftzeile etwa in der Bildmitte links und - allerdings schwerer entzifferbar - auch auf dem Flacon in seiner rechten unteren Ecke sicher rekonstruiert werden kann, kann die Mindestbreite des Bilds erschlossen werden. Denn es fehlen jeweils die Buchstaben ‚TE' und ‚CI', für die einschließlich eines geringen weißen Randes analog zur Plazierung der Aufschrift auf dem Flacon etwa 1/25 zusätzliche Bildbreite zu veranschlagen sind. Das würde bedeuten, daß der Frauenkopf möglicherweise mit vollständigem linken Auge, aber doch beschnittenem Gesicht wiedergegeben war; volle Sicherheit ist hier nicht zu gewinnen, zumal verwandte Bilddenkmäler dem Verfasser nicht bekannt sind, die einen Analogieschluß erlauben würden. (4) Eine Studie zu beschnittenen Porträts ist m.W. noch ein Desiderat. Jedenfalls würde die vollständige Wiedergabe der letztendlich in pergamenischer Tradition wildbewegten Frisur als wesentlicher Bedeutungsträger dem Frauenkopf gegenüber den anderen Bildelementen eine zu dominante Rolle zuweisen, während die nur geringe Ergänzung an der rechten Seite der kompositionellen Brillanz des gesamten Bildwerks zugute käme.

Man könnte also das Bild ausgehend von der Aufschrift am rechten unteren Bildrand zu dem leicht nach links versetzten Flacon aus lesen. Von dort aufsteigend in einer sich dynamisch steigernden Spirale von der konkreten schriftlichen Aussage über das dingliche Motiv des Flacons, der geschickt den Text künstlerisch verfremdet aufgreift, zu dem rätselhaft blickenden Frauengesicht und schließlich dem hermeneutischen und sinnhaften Höhepunkt der in vieler Hinsicht fragmentarischen Gruppe dreier Frauenkörper. Da diese Lesung von rechts unten nach links oben dem vorherrschenden Prinzip in unserer abendländischen Kultur widerspricht, mit der das Bildwerk eindeutig durch seinen dreisprachigen Text engstens verbunden ist, ist sie zu überprüfen. Folgen wir dagegen unserer Lesegewohnheit, so würde, wie in einem gut konzipierten wissenschaftlichen Aufsatz oder einem spannenden Kriminalroman, die Auflösung der rätselhaften Bildabfolge von den drei Torsen über das Frauengesicht und dann den Flacon durch den Text auch für den flüchtigen, und damit typischen Leser geboten. Die Problematik dieses methodischen Vorgehens ist freilich evident: Darf ein Bild wie ein Text gelesen werden? Darf überhaupt ein bestimmtes Betrachtungsmuster postuliert werden?

Eine repräsentative Umfrage unter Personen verschiedenen Geschlechts, unterschiedlichen Alters und differenzierter sozialer Zugehörigkeit5 dokumentierte, daß das wissenschaftliche Postulat der linksläufigen Leserichtung von Bildwerken den meisten Nichtwissenschaftlern eher unbekannt ist. Stattdessen ist eine allgemein feststellbare Konzentration oder Verengung des Blickwinkels je nach persönlicher Affinität zu den einzelnen Bildelementen zu registrieren, wie sie in vielen Bereichen des Lebens als typisch gelten darf. Während bei männlichen Kleinbürgern und Intellektuellen eine selektive Fixierung auf die Gruppe der weiblichen Akte dominiert, oszilliert der Blick bei männlichen höheren Angestellten zwischen den kopflosen Akten und dem körperlosen Frauenkopf, während gutbürgerliche Frauen sich stärker zu dem Flacon hingezogen fühlen, weibliche Intellektuelle dagegen den dreisprachigen Text kritischer Analyse unterziehen.

Angesichts dieses empirischen soziologischen Forschungsergebnisses soll die für die Klärung des Bildformats etwas unmethodisch im Vorgriff vorgenommene Kompositionsanalyse abgebrochen werden, zumal die Vermutung nicht unterdrückt werden kann, daß durch das Bildwerk auch und gerade ein nichtwissenschaftlicher Betrachterkreis angesprochen werden soll. Zurück zur bewährten Methode!

Bevor wir uns der Deutung des gesamten Bildwerks zuwenden, bedarf es der sorgfältigen Beschreibung und Analyse der einzelnen Bildelemente nach dem nach wie vor gültigen hermeneutischen Grundsatz von Carl Robert von 1919 'zuerst benennen, dann erkennen'. (6) Der Text rechts unten, der zumindest Angehörigen der Prätelevisionsgesellschaft, zu der sich Verfasser zählt, als am leichtesten benennbares Bildelement vermutet werden könnte, bleibt trotz hinreichender Italienischkenntnisse vorerst dunkel, gibt aber eine spezifische Richtung auf die Kunst, L'Arte, vor, wobei durch die Wahl der italienischen Sprache eine besondere Kunst gemeint scheint. Eine weitere Spezifikation ergibt sich durch den genitivisch präsentierten Eigennamen, dessen doppeltes C mit nachfolgendem I nach dem mäßig harten Guttural und dem dunklen U ein Aufsteigen aus dumpfer Niederung zu kaum erreichbarer Höhe symbolisiert. In geschickter didaktischer Weise wird der Text auf dem Flacon wiederholt und mit einem kurzen französischen Text verknüpft: Eau de Toilette. Da, um es vorwegzunehmen, die aus einer wissenschaftlich genauen, wörtlichen Übersetzung resultierenden Assoziationen gerade auch angesichts der goldfarbenen Flüssigkeit im Flacon interpretatorisch in eine Sackgasse führen dürften, soll auf eine linguistische und semantische Deutung verzichtet werden. (7)

In raffinierter Steigerung von L'Arte di Gucci allein, dann in aufsteigender Reihung erweitert durch das nur der Fachfrau verständliche Eau de Toilette wird in der kleinsten Schriftgröße endlich für den deutschen Betrachter, an den sich offenbar die Aussage wendet, die Erklärung geboten. L'Arte di Gucci bedeutet offenbar Die hohe Kunst Frau zu sein. Worin liegt nun die hohe Kunst Frau zu sein? Da der Text selbst keine eindeutige Antwort gibt, sind die weiteren Bildelemente zu befragen. Gewiß gewährt der Frauenkopf Hinweise, in dem die sorgfältig gemalten Augenbrauen, die warmtonige Schattierung der Oberlider oder das gepflegte sinnliche Rot des geschwungenen Mundes, der makellos helle Teint und das temperamentvoll sich entfaltende violette Haar ein eindrucksvolles Kunstwerk bilden. Dem Künstler war offenkundig bewußt, daß mehr als ein kunstvoll kolorierter Kopf erforderlich ist, um dem Anspruch des Textes gerecht zu werden. Worin liegt nun die hohe Kunst Frau zu sein tatsächlich?

Den Bildhintergrund bildet eine etwas vage goldbraune Kulisse, die als rauhe Felswand aber auch als knittriges Packpapier gesehen werden kann, in die hoch oben die Gruppe von drei weiblichen Akten im selben warmen goldbraunen Lokalton eingebettet ist. Durch den extremen Kontrast zwischen dem rohen und unbearbeiteten, formlosen Hintergrund und der geschmeidigen Eleganz der formvollendeten Körper wird die Gruppe zum augenfälligen Exemplum hoher Kunst.

Die Aussage scheint klar: Hohe Kunst in Gestalt weiblicher Frauenkörper werden mit dem kunstvollen Frauenkopf und dem Duftwasser von Gucci verknüpft. Im Vordergrund steht das Duftwasser, das seiner schönen Trägerin im Mittelgrund die hohe Kunst Frau zu sein verleiht. Doch die Gruppe im Hintergrund, die teilweise durch die tief violette Mähne der Frau hindurch schimmert, wird hintergründiger, sofern sie nicht nur als Chiffre, sondern je nach dem Wissen des Einzelnen oder der Intensität seines fragenden Blicks auf ihre spezifische Bedeutung befragt wird. Ist denn überhaupt die Gruppe der drei nackten Frauenkörper als Kunstwerk zu verstehen? Nicht nur von dem Haar der Schönen, sondern auch von der felsartigen Kulisse wird sie teilweise verdeckt, als ob die Frauenkörper in verknautschte Bettwäsche gebettet wären.

Wäre da nicht die eine oder andere Bruchfläche, käme ein in Kunst der Vergangenheit wenig Bewanderter mangels einer Basis oder Plinthe gar nicht auf den Gedanken an ein statuarisches Kunstwerk. Vielmehr läßt der Künstler die sehr wohl proportionierten Frauenkörper mit einem Anflug von die Sinne berauschender körperlicher Üppigkeit sich mit laszivem Hüftenschwung räkeln. Im bewußten Verzicht auf die Köpfe und teilweise die Arme, wie der Vergleich mit den erhaltenen antiken Bildwerken erhellt (8), präsentiert er sozusagen pure weibliche Körperlichkeit in einem erotisch-heraldischen Motiv der bevorzugten Ansichten von vorn und hinten. Ist es tatsächlich die kopflose weibliche Körperlichkeit in ihrer sexuellen Zwiefalt, die die hohe Kunst Frau zu sein ausmacht? Soll das Bild männliche Käufer derart animieren, dieses Duftwasser zu kaufen und zu verschenken?

Ohne das Wissen um das antike Zitat wird man die Gruppe zweifellos so sehen können. Jedoch kann auch eine ganz andere Sinnschicht aus der gemeinsamen Umarmung der drei nackten Schönen erschlossen werden, die auch in der unverhüllten Zuneigung der Oberkörper und der Abgrenzung der zentralen Figur gegenüber dem Betrachter manifest ist. Wird in diesem Bildwerk lesbische Liebe als die hohe Kunst Frau zu sein gefeiert? Und wendet sich das Bild also auch an ein bestimmtes weibliches Klientel?

Eine weitere Betrachter- und damit auch Adressatengruppe für das beworbene Produkt könnten Angehörige des zwar langsam aussterbenden, aber immer noch existenten Bildungsbürgertums sein, zu deren festem schöngeistigem Besitz in seltener Wortwahrheit die drei nackten Schönen als antike Gruppe der drei Grazien gehören, auch wenn oder gerade, weil man über sie kaum etwas weiß. Denn nach wie vor gilt das Dictum von Pausanias von vor 1850 Jahren: "Wer als erster die drei Grazien nackt darstellte, als plastische Gruppe oder als Gemälde, habe ich nicht herausbekommen können". (9) In dem hier relevanten Kontext ist dies auch nicht weiter wichtig, vielmehr geht es um das Motiv der drei Grazien, das sich seit augusteischer Zeit in der Kunst großer Beliebtheit erfreute, wie zahlreiche Marmorkopien und andere Bildwerke dokumentieren (10), und das eine lange abendländische Tradition hat, die mit Hesiod um 700 v.Chr. einsetzt. Ihr ist eine Fülle unterschiedlicher Deutungen zu verdanken, deren Vielfalt die Perspektiven unterschiedlicher Epochen und Ideenwelten der abendländischen Geistesgeschichte spiegeln. (11)

Da der Künstler des hier betrachteten Bildes offenbar eine antike Gruppe zitiert, mag es - obwohl methodisch bedenklich - gestattet sein, die neuzeitlichen Deutungen aus naturphilosophischer Perspektive als Wohltaten der Natur (Jahreszeiten) oder aus kunstphilosophisch-ästhetischer Perspektive als Allegorien der Kunst, Malerei, Skulptur und Architektur oder aus kunstgeschichtlicher Perspektive auch als Metapher der Grazie hier auszuklammern; ungern verzichten wir auch auf die erst nachantike Einbeziehung der drei Grazien in das Gefolge der Venus als Allegorien der Wollust mit natürlich negativer Konnotierung.

Für den exemplarischen Charakter dieser Überlegungen mag es genügen, die antiken Deutungen für die Frage nach den Inhalten der hohen Kunst Frau zu sein einfließen zu lassen.

Seit Hesiod sind die drei Grazien meist als Personifikationen der Schönheit, Freude und Jugendblüte gedacht worden (12), so daß gewiß mancher gebildete Betrachter diese Eigenschaften beim Anblick des Bildes erinnert, auch wenn der durchdringende Blick der Schönen aus dem leicht gesenkten Gesicht nicht unmittelbar Freude vermittelt. Doch wäre es natürlich sehr hohe Kunst und damit sehr werbewirksam, wenn ein Duftwasser blühende Jugend, Schönheit und Freude verleihen könnte.

Für den Leser antiker Autoren wie Seneca, Horaz oder Servius (13) sind die drei Grazien aus ethisch-moralischer Perspektive in ihrer unverhüllten Nacktheit wie Freunde mit unverhülltem Herzen Allegorien der Freundschaft und in dem Weggang der einen und der Wiederkehr der beiden wie die doppelte Rückkehr einer Wohltat Allegorien der Wohltaten. Gibt es eine schöneres Geschenk als ein Duftwasser, das als Wohltat zu denken ist und Freundschaft schenkt?

Der Leser archäologischer Fachliteratur, der alle tiefen Gründe der archäologischen Wissenschaft durchdringt, kann aber noch weitere Assoziationen mit dieser Gruppe verbinden, die wir Walter Trillmich (14) verdanken. Die von ihm erhellte Zweitverwendung eines ursprünglichen Grabreliefs im Pergamonmuseum in Berlin (15) (Abb. 2) dokumentiert zum Einen eine pikante Variante, zum Anderen anschaulich die vielfältige Interpretierbarkeit dieses Motivs. Während die Sarkophagforschung dazu neigt, die drei Grazien aufgrund ihrer Darstellung auf Hochzeitssarkophagen als Symbol der ehelichen Eintracht zu deuten, (16) die zweifellos ein schönes Argument für den Kauf eines Parfüms sein könnte, schlägt Trillmich (17) eine sehr viel plausiblere Deutung vor: Die Sitzende neben der Gruppe der drei Grazien sei die Verstorbene, auf deren Schönheit zu Lebzeiten durch die Gruppe bezug genommen worden sei. Doch unabhängig von der jeweiligen Tradition dürfte der Gedanke an den Tod nicht nur den Kauf eines Eau de Toilette wenig fördern.

Sorores
Abb. 2: Ad Sorores IIII. Marmorrelief in Berlin, Pergamonmuseum

Noch weniger als eine auch nur geringfügige Anspielung an den Tod dürfte schließlich aber die mit der antiken Umwidmung des Grabreliefs verbundene pikante Aussage ein geeignetes Kaufargument für das Duftwasser bzw. eine Erläuterung für die hohe Kunst Frau zu sein gewesen sein; oder ist das zu bürgerlich gedacht? Oder hat der Künstler des Plakats durch das antike Zitat der Gruppe der drei nackten Mädchen eine fast allumfassende Vorstellung von der hohen Kunst Frau zu sein vermitteln wollen?

Bereits Jordan hatte 1872 den "finsteren Verdacht" (18), den er jedoch zeitgemäß von sich wies, daß die den drei nackten puellae zugesellte bekleidete Matrone "eine Patronin lasziver Freuden" (19) sein könne. Erst im Lauf des 20. Jhs. hat sich in Übereinstimmung mit der Inschrift AD SORORES IIII die Vorstellung durchgesetzt, daß das einstige Grabrelief aus einer Nekropole gestohlen und durch die Aufschrift Zu den vier Schwestern in ein Aushängeschild für ein Bordell umgewandelt wurde. (20)

Ich glaube nicht, daß der Künstler des Plakats diesen speziellen Kundinnenkreis gezielt ansprechen wollte, Werbung für ein Hurenparfüm machen wollte, zumal dieser Aufsatz nur im Kreis der Fachkollegen bekannt sein dürfte. Was sich der Designer oder der Auftraggeber bei diesem Plakat im einzelnen gedacht haben, welche Botschaft sie intendiert haben, welchen Adressatenkreis sie erreichen wollten, weiß ich nicht. Viel wichtiger erscheint mir jedoch aus methodischen Gründen, was der Betrachter diesem Bild entnehmen kann bzw. welche spezifische Botschaft er dem Bild zuweist, je nachdem welche Assoziationen sich ihm aufgrund seines individuellen Wissens entfalten.

Oder verallgemeinernd formuliert: Bildwerke und insbesondere Werbeplakate werden vermutlich mit dem Ziel einer bestimmten Botschaft gestaltet, die aber bereits zu dem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung durch den ersten Betrachter anders verstanden werden kann als sie gemeint ist. Je nach seiner persönlichen Erfahrung, seinem Wissen, seiner Erinnerung etc. kreiert der Betrachter seine eigene individuelle spezifische Botschaft. Und das gilt offenbar selbst für ein so simples Bildwerk unserer Lebenswelt wie das Werbeplakat.

Wieviel umfangreicher und komplexer das Konnotationsspektrum differenzierterer Bildwerke noch dazu anderer Epochen oder Kulturen ist, wissen wir als Wissenschaftler alle. Die konsequente Schlußfolgerung aus diesen Beobachtungen hinsichtlich der Perspektivität unserer Erkenntnis und damit einer gewissen Beliebigkeit ist mit Blick auf Derridas (21) Dekonstruktion alles andere als neu - wenn auch vielfach nicht akzeptiert -, aber was antworten wir darauf? Wie begründen wir künftig das Erforschen des Bedeutungsgehalts der Bildwerke, der Bauwerke oder auch aller je gedachten und fixierten Gedanken, die den zentralen Forschungsgegenstand in den verschiedenen Disziplinen bilden, wenn es denn keine zu suchende Wahrheit gäbe?

Dürfen wir uns als Wahrheitsersatz mit dem Konsens mit den Fachgurus bescheiden, der uns immerhin die Fleischtöpfe der Forschungsförderung öffnet? Klug wäre es, aber epigonal langweilig.

Wie könnten wir unseren immensen wissenschaftlichen Aufwand begründen, wenn es denn über die fleißige Anhäufung von Materialien in gewaltigen Zettelkästen oder Datenbanken hinaus nicht mehr als eine Reproduktion unseres eigenen, von anderen angeeigneten Wissens, also nur eine Selbstspiegelung wäre?

Das Schicksal von Narziß, der sich in sein Spiegelbild verliebte, ist zu bedenken; (22) denn in seinem Spiegelbild fand er keine Erfüllung, er schwand dahin und lebt in der Narzisse je nach Perspektive als schöne Blume oder als warnendes Beispiel weiter.

Aber vielleicht dürfen wir uns damit trösten, daß die Vorstellung, daß in der Wissenschaft keine Wahrheit existiert, auch nur ein zeit-, kultur- oder individualspezifisches Phänomen und damit seinerseits nicht wahr ist. Logisch wäre es. Oder?

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