FRITZ KRINZINGER  

ZUR ARTEMIS EPHESIA
Ein Palimpsest aus der Erinnerung eines Künstlers.
mit einer Abbildung

Robert Fleischer zum 60. Geburtstag gewidmet

Ohne Zweifel gehört die unermüdliche Beschäftigung mit den Problemen um die Artemis Ephesia zu den Meilensteinen Ihres wissenschaftlichen Lebenswerkes, lieber Herr Fleischer. Eine Beschäftigung, die große Zusammenhänge religionsgeschichtlicher Natur ebenso berührt wie die ikonographischen und kunsthistorischen Probleme, die am Kultbild selbst und an seiner Wirkungsgeschichte hängen.

Von besonderem Interesse ist dabei sicherlich die Frage der Deutungsmöglichkeit des Brustschmuckes, welcher die römischen Kopien des Kultbildes seit jeher mit der Aura des geheimnisvoll Mythischen auszeichnet. Scheinbar belegt durch christliche Texte, in welchen die Artemis die Vielbrüstige genannt wird, hat man darin den Ausdruck verschwenderisch nährender Fruchtbarkeit erkennen wollen, wie es der mediterranen Muttergottheit und ihren östlichen Wurzeln entspricht. Für alle, die dem "Glauben der Hellenen" nur die marmorene Kühle männlicher Nacktheit zumuten wollten, war damit die EPHESIA als Barbarin gekennzeichnet. Die moderne Psychologie des 20. Jh. hingegen fand darin einen neuen Aufhänger, aus dem man sich in die Tiefen des Unterbewußten versenken konnte.

Nach der gründlichen und breit angelegten Versachlichung der Diskussion, die Sie selbst ganz wesentlich mitgestaltet haben, scheint heute die Interpretation klar zu sein, zumal mit G. Seiterle und seiner Stierbeutel-Theorie ein elementarer Durchbruch gelungen ist, dessen praktische Erprobung im Basler Museum zwar optisch auch den kritischen Betrachter überzeugen konnte, wenngleich das gelungen scheinende Experiment aus olfaktorischen Gründen sehr rasch wieder entsorgt werden mußte. Aus osteologischen Untersuchungen geht nun eindeutig hervor, daß neben den Stieropfern, welche dieser Theorie folgend als dominanter Faktor im Kultgeschehen nachweisbar sein müssten, eine ganze Reihe von kleineren Wiederkäuern zu den zahlenmäßig überwiegenden Opfertieren gehören und auch der Anteil an Schweineopfern ein unerwartet hoher gewesen ist. Eine weitere Überlegung gegen die Stierbeutel-Theorie begründet sich aus dem Größenverhältnis des ursprünglich wohl deutlich unterlebensgroß zu denkenden Kultbild zum mächtigen scrotum eines Stieres. An der kaiserzeitlichen Nachbildung des Kultbildes, welche der Rekonstruktion von Seiterle zugrunde lag, mag das Verhältnis einigermaßen befriedigend ausgefallen sein, ob damit die ursprüngliche Kultpraxis und ihre ikonographische Umsetzung in den späteren Kosmos der Göttin wirklich belegbar wurde, muß allerdings weiterhin offen bleiben. Ein sehr interessanter Vorschlag zu diesem Problem findet sich jüngst in einem noch unpublizierten Manuskript von M. Weißl, der als Mitarbeiter im ephesischen Forschungsprojekt die Topographie des Artemisions von Ephesos vor der Errichtung des kroisoszeitlichen Tempels erarbeitet hat. Er denkt darüber nach (Ms. 117, Anm. 472), daß "aufgrund des osteologischen Befundes und wegen der Größenverhältnisse zwischen Statue und Beuteln zudem auch die Genitalien kleinerer Wiederkäuer als Opfergaben in Frage" kämen. Diese Überlegung scheint im Prinzip plausibel, der Gedanke ist folgerichtig entwickelt. Aber können wir uns wirklich die stinkenden Geißböcke und anderes Kleinvieh als Opfertiere der GROSSEN ARTEMIS vorstellen?

Was hätte unser verehrter U.v. Willamowitz-Moellendorff wohl dazu gesagt?

Also doch Brüste?

Diese Frage kann meines Erachtens als grundsätzlich positiv geklärt gelten, seit ein graphisches Bilddokument aus den frühen 70er Jahren wiederaufgetaucht ist. Das Blatt ist eigentlich ein Palimpsest. Ursprünglich unter dem direkten Eindruck des heiligen Ortes entstanden, gewissermaßen als unmittelbarer Ausbruch einer ontologischen Tatsache, die sich einer meisterlichen Künstlerhand bediente, wurde die Darstellung sofort beklatscht und von jedem, der davon erfuhr, als neues Argument zu unserem Problem akzeptiert. In der Folge ist das Dokument leider in Verstoß und in Vergessenheit geraten, konnte aber nunmehr mit Hilfe freundlicher Musen sorgfältig wiederhergestellt und aus der Erinnerung des Künstlers von ihm persönlich neu gestaltet werden (Abb.1).

Ermuntert durch die Feststellung von St. Karwiese in einem rezenten Entzifferungsbeitrag zur ARTEMIS EPHESIA "SEBASTEIA", daß "die Auslegung der Einzelteile des Kultbildes, dessen Anblick (wenigstens in bekleidetem Zustand) ja keineswegs tabu war" ausdrücklich "der Phantasie oder Willkür des Nichteingeweihten überlassen" bleibt, möchte ich es als zugegebenermaßen Nichteingeweihter wagen, Ihnen dieses Blatt zum runden Geburtstag zu widmen, lieber Herr Fleischer, in der Hoffnung, Ihnen damit ein wissendes Schmunzeln zu entlocken.

Artemis
Abb. 1

Die Göttin ist nur mit einem gemusterten Lendentuch bekleidet und in Rückenansicht dargestellt. Sie wird, wie seit der Genre-Kunst des Hellenismus oft realisiert, menschennah und bei einer sehr banalen Tätigkeit gezeigt. Artemis ist offensichtlich damit beschäftigt, ihre Wäsche zum Trocknen auf eine Leine zu hängen, die links an einer ionischen Säule befestigt ist. Die Aufhängung rechts liegt außerhalb des Bildrandes und ist leider nicht erhalten. Unter dem gehobenen rechten Arm der Figur werden ihre weiblichen Brüste sichtbar, die eine jugendlich frische Silhouette erkennen lassen. Das Besondere ist dabei, daß die Brüste im Gegensatz zur anatomischen Erwartung nicht symmetrisch links und rechts der Körperachse nebeneinander liegen, so daß im gegebenen Betrachtungswinkel nur die rechte Brust sichtbar wäre, wir sehen vielmehr eindeutig zwei, welche übereinander angeordnet sind. Die ganze Aussagekraft des Bildes hängt an diesem aufregenden Detail der Darstellung. Die Erklärung liefert das dunkel dargestellte Wäschestück, welches die Göttin gerade aufhängt. Es ist nichts anderes als ein Büstenhalter, der in drei übereinander angeordneten Reihen mit je drei Körbchen ausgestattet erscheint. Damit sind evidente Rückschlüsse auf das Aussehen des dem Betrachter verborgenen Oberkörpers der Trägerin und die Anzahl ihren Brüste möglich, zu deren reizvollem Halt und gehobener Gestaltung das eben gewaschene Dessous ja wohl bestimmt war. Die asymmetrischen Träger des Wäschestückes, die Gesamtproportionen und andere Überlegungen machen es eigentlich sehr wahrscheinlich, daß dies nur eine Hälfte des Büstenhalters ist, den wir uns dann doppelt so groß und mit 18 Körbchen ausgestattet vorstellen müssen ... Damit findet vielleicht auch das flatternden Band an der rechten unteren Ecke des Wäschestückes, dem die Entsprechung auf der linken Seite fehlt, eine Erklärung. Leider ist die Quellenlage zur antiken Mieder-Industrie zu dürftig, als daß wir zu Verschlußtechniken und Rückenbandlängen solcher Kleidungsstücke entscheidendes sagen könnten. Ikonographisch wäre diese Interpretation jedenfalls auf das Vorbild der SCHÖNEN ARTEMIS zu beziehen, deren Brüste nach Zählungen vor dem Original dieser Anzahl nahekommt. Sie sind dort allerdings in einer Verschränkung angeordnet und das Mieder mit kreisrunden Stützreifen ausgestattet, was sicherlich der Funktionssicherheit zugute kommt, aber wohl keinen hohen Tragekomfort mit sich brachte. Aus prinzipiellen Überlegungen zur achsial-symmetrischen Struktur der menschlichen Anatomie sind diese Details wohl eher als eine Ungenauigkeit in der sonst hervorragenden künstlerischen Ausführung zu beurteilen und dem Unverständnis des Kopisten zuzuschreiben.

Zusammenfassend bleibt es also bei der MULTIMAMMIA des Minucius Felix, auch wenn uns die ungenaue Überlieferung keine exakten Schlüsse auf die Zahl der Brüste ermöglicht.

Die weiteren Fragen zur Ikonographie des Kultbildes, wie etwa zum Kopfschmuck und zur Gürtung,  werden durch die Zeichnung leider nicht wirklich erhellt. Zu groß wären die Unsicherheiten, wollte man aus der leicht geschürzten Freizeitkleidung der Göttin, die sie am Waschtag trägt, auf den Prunk-Ornat im Rahmen ihres Hochfestes schließen.

Anders steht es, wenn wir den Ort der Darstellung betrachten. Es ist eindeutig die ebene ephesische Landschaft mit seiner hügeligen Umgebung wiedergegeben. Wir befinden uns direkt im Heiligtum. Beim Versuch, den Landschaftsausschnitt der Darstellung und damit die Blickrichtung des Künstlers in der Natur zu ermitteln, rückte das kontrovers diskutierte Problem der von A. Bammer wiedererrichteten Säule im Artemision ins Blickfeld. Zum einen kann nunmehr nach Ausweis der Zeichnung mit Sicherheit gesagt werden, daß auch diese Säule ursprünglich ein ionisches Kapitell getragen hat. Der heutige Eindruck mit dem Storchennest kommt also - von der nicht genau ermittelten Höhe einmal abgesehen - der antiken Gestalt ziemlich nahe. Zum anderen kann freilich nicht ausgeschlossen werden, daß unser Künstler bei seiner historisch zurückgewandten Darstellung aus dem Unterbewußten vielleicht doch vom heutigen Anblick des Geländes und der einen, isoliert aufgestellten Säule mit ihrem evidenten Symbolwert beeinflußt wurde. Wir wissen heute zwar einiges über die schädigende Wirkung von Beton auf die antike Bausubstanz, ob die Verwendung dieses modernen Baumaterials jedoch auch einschränkende Auswirkungen haben kann auf den ungestörten Fluß der Intuition in allen von künstlerischer Freiheit getragenen Erkenntnisprozessen, dafür fehlen uns leider die notwendigen Langzeituntersuchungen an den zahlreich vorhandenen Beispielen in der ephesischen Ruinenlandschaft. Deshalb wollen wir im Sinne einer methodischen Korrektheit die Interpretation des Bildes nicht weiter überfrachten und auf die Hoffnung verweisen, daß in der Zukunft weitere künstlerische Spontan-Erkenntnisse unsere Aussagemöglichkeit zu diesen Fragen erweitern mögen.

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