DETLEV KREIKENBOM  
Die Welt in Scherben

Etwas Außerordentliches hat sich ereignet. Eine Frau fuhr samt ihrem Bett, in dem sie lag, durch die Luft, und dies wider Willen wie auch gegen alle Regeln der Schwerkraft: subjektiv eine traumatische Erfahrung, objektiv ein Affront, der an den Grundfesten der Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit des neuzeitlichen Menschen rüttelt. Während die Frau auf der unbeabsichtigt waghalsigen Tour im letzten Moment noch Rettung fand, indem sie das Seil eines Helikopters ergreifen konnte, stürzte schließlich ihr Gefährt, das Bett, zu Boden.

Zur Aufhellung des Phänomens wurde ein Gremium aus Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen eingesetzt. Ohne Umschweife war auch ein Begriff für den Forschungsgegenstand gefunden; man sprach von "Levitation". Allein es gebrach an einem übergreifenden Verständnis, an einer gemeinschaftlich getragenen Sicht. Der Sachverhalt ließ sich beschreiben, aber nicht analysieren - nicht einmal interdisziplinär.

Dazu bekannte sich ein Sprecher der Gelehrtengemeinschaft öffentlich. "'Es wird schwer sein', so begann er, 'das Ganze dieses ungewöhnlichen Vorfalls zu verstehen. Wir sind durchaus in der Lage, fast sämtliche Motive und Einzelteile des Geschehens zu entschlüsseln und abzuklären. [...] Was uns aber fehlt, ist die Fähigkeit zu erkennen, welcher Ordnung des Seins das Geschehen denn letztlich im Ganzen angehört. Wir befinden uns sozusagen in der Lage eines Archäologen, der an seiner Ausgrabungsstätte alle Bruchstücke und Scherben eines Gefäßes gefunden hat, tatsächlich alle. Und siehe da, sie passen auch haargenau aufeinander, sie fügen sich nahtlos zu einem formschönen Ganzen. Nur stammen sie offenkundig aus den verschiedensten Epochen und Zeitschichten, und das Gefäß, das sich so mustergültig und harmonisch rekonstruieren ließ, das kann es zu keinem einzigen Zeitpunkt der Menschengeschichte je gegeben haben.'"

Botho Strauß, dessen Roman Der junge Mann der Passus entnommen ist, verlegt sich auf einen grundsätzlichen Zweifel an der Kompetenz von Wissenschaften, sobald diese mit einer anomalen Aufgabe konfrontiert werden - anomal insofern, als die Situation der alltäglichen Erfahrungswelt zuwiderläuft und, so darf man voraussetzen, nach den Maßstäben einer einzelnen Disziplin nur zu Teilen schlüssig dargelegt werden kann. Damit wäre genau der Punkt erreicht, an dem eine fachübergreifende Betrachtung ansetzen müßte. Aber gerade mit einer interdisziplinären Herangehensweise sind laut Botho Strauß Betrachtung und Ergebnis auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Worin ist das Dilemma begründet? Wollen die Fächer nicht kooperieren? Können sie nicht kooperieren? Entziehen sich vielleicht die spezifisch entwickelten Systematiken und Methoden der 'Kompatibilität'? Bleibt deshalb die Schnittstelle gar auf den proklamierten Begriff - die "Levitation" - beschränkt? Und dechiffriert sich dieser als phänomenologische Worthülse, indem er lediglich als Substitut für Undefinierbarkeit des Gegenstandes figuriert? Oder liegt es schlicht an einer perfiden Vorgabe, einer willkürlichen Thematik, in der sich voraufklärerisches Gedankengut, psychoanalytisches Gebaren und Potenzen des Industriezeitalters derart durchkreuzen, daß die 'hochfliegende' Entwicklung des Menschen abgebrochen wird? Der Aufstieg in über-irdische Regionen findet sein Ende in einem als Retter fungierenden hochtechnisierten 'deus ex machina', der den Transport durch Zeit und Raum auf den Boden zurückholt, während das Bett - das Vehikel der Individualität, der traditionelle Träger privater Ruhe und Lust, aber auch der Ort, an dem (Alb-)Träume entstehen - zum Absturz verdammt ist. Obendrein erinnert das Bild des fliegenden Bettes kaum zufällig an Storms Kunstmärchen Der kleine Häwelmann. Um den Vorgang wissenschaftlich als Gegenstand realen Geschehens zu explizieren, müßte man die Parapsychologie unter die akkreditierten Disziplinen reihen, wie es Botho Strauß ironischerweise auch tut.

Ganz unabhängig von der Romansituation erschiene dem Literaturhistoriker Peter von Matt die Aporie des gelehrten Gremiums sofort klar. Denn seiner 1989 im Liebesverrat geäußerten Meinung nach wäre es Wissenschaften wegen ihrer Diversität grundsätzlich versagt, gemeinsame Forschungsarbeit zu leisten. Dies jedoch öffentlich auszusprechen, würde an eines der großen Tabus gegenwärtiger Wissenschafts-landschaft rühren.

Eine Erläuterung bleibt er schuldig. Seine Sicht ist aber offenkundig von der des Literaten nicht weit entfernt. Botho Strauß bemüht nun in seinem Fallbeispiel, um das vermeintlich notwendige Scheitern der Kooperation zu beschreiben, die Metapher des gekitteten Gefäßes der Zeit, das sich als epistemologische Büchse der Pandora erweist. Akzeptierte man die Vase, in der sich alle Teilergebnisse auf das beste aneinanderfügen, würde ihr das Übel der Zeitvernichtung entsteigen: Zumindest hätte man sich von einem Zeitbegriff als historische Kategorie zu verabschieden - was der Autor keineswegs für abwegig hält.

Sein Roman Der junge Mann ist oft als Schlüsselwerk angeblich postmoderner Mentalität zitiert worden. In einer wesentlichen Hinsicht gebührt dem schon 1984 erschienenen Buch tatsächlich nachträgliche Anerkennung: nämlich auf einen grundlegenden Wandel des Zeitverständnisses in seinen zahlreichen Facetten verwiesen zu haben. Das hatte mit dem schmerzlichen Abschied von idealistischen wie - vor allem - materialistischen Geschichtserklärungen zu tun, mit der Diskreditierung von actio und reactio als Basis für Sukzessionsmodelle, mit dem Zweifel an der Möglichkeit, Vorgänge, welcher Art auch immer, auf einen temporal determinierten Hintergrund zu projizieren und umgekehrt jene nur aus diesem zu erklären.

Mit dem Verlust des Entwicklungsglaubens bietet die Zeit auch kein Ordnungsprinzip der Erkenntnis mehr. Noch zu fragen, in welch einem Zeitpunkt man sich gerade befindet, schildert Botho Strauß als naives Anliegen; nur Kinder wollen die Uhrzeit wissen und belästigen Erwachsene mit dem Wunsch nach Auskunft. Der Menschheit erscheinen temporäre Bedingungen bis hin zur eigenen Zeitlichkeit als irrelevant.

Den Blick dann auch distanzlos rückwärts zu wenden, ist nur konsequent. Im Spiegelbild der Gegenwart müssen frühere Tage ebenso liebgewordenen Lesbarkeiten entzogen werden. Geistesgeschichtliche Phänomene verlieren aus diesem Blickwinkel den entscheidenden Aspekt ihrer Historizität: ihre Verankerung in einem prozessualen Verständnis. Notwendig setzt die Suche nach den Konstanten, den Invariablen ein; es gilt nun, die Gemeinsamkeiten und Überbrückungen zu ermitteln, die die Zeitspezifika mindestens auf den zweiten Platz verweisen, soweit sie als solche überhaupt anerkannt werden.

Grundmuster des Denkens und Handelns, archetypische Strukturen gewinnen die Oberhand über jedwedes Fortschrittsmodell, vielleicht eben weil die Zeitläufte aus sich heraus nichts Neues leisten. Der "Weltgeist", vermerkt Peter von Matt, ist etwas, "was sich ohnehin bewegt oder nicht vom Fleck rührt" - jedenfalls eine Sache, auf die die Literaturwissenschaft keinerlei Einfluß besitzt. Und derselbe Autor benennt ausdrücklich die Konstanten und Invariablen, die "Urbilder", als Gegenstand seines Interesses an Literatur. Hier schimmert eine, letztlich von der Romantik beeinflußte, zeitgenössische 'déconstruction avant la lettre' durch. Der Rekurs auf ewig gültige 'Urbilder' impliziert viceversa die allzeitige Wiedererkennbarkeit von essentiellen Verhaltensweisen, von grundsätzlichem kulturellem oder sozialem Habitus und dessen medialer Umsetzung. Analog hofft die Kultursemiotik seit mehreren Jahren, aber unverdrossen, diejenigen Zeichen bestimmen zu können, mit denen die Kommunikation jedweder Gesellschaft erfolgt. Peter von Matt bemüht signifikanterweise antike Objekte, um eine Seite eines ihm ursächlich erscheinenden Themas zu exemplifizieren: die dauerhaft religiöse Komponente, die "naturhaft sakrale Dimension" der Liebesbeziehung: "Man erfährt sie, beispielsweise, angesichts der etruskischen Sarkophage, auf deren Deckeln die Frau und der Mann nach einem gemeinsamen Menschenleben nebeneinanderliegen, den Kopf aufgestützt, entspannt, unverkennbar vergnügt, und da zusammen warten - man weiß nicht worauf. Man braucht es auch nicht zu wissen. Die Aussagekraft dieser Gräber hängt nicht von den Kenntnissen der etruskischen Religion und ihrer Bestattungsrituale ab. Sie besteht in der sakralen Aura um das Paar herum, das Liebes- und Lebenspaar, die, rührend in ihrer ruhigen Utopie, jeden streift und von allen begriffen wird. Diese utopische Aura nährt sich wesentlich von der gleichzeitigen Präsenz des Lebens, liebevollen Lebens, und des Todes, sanften Todes, von der Selbstverständlichkeit(,) mit der der Tod in den Lebensraum des Paars hereingeholt, mit der das Leben des Paars durch den Tod hindurch- und über ihn hinausgeführt erscheint - durch die Ausrichtung der Liebenden auf etwas, was ihr Leben überdauert."

In Peter von Matts Interpretation ist ein doppeltes Credo zu greifen. Zum einen bekennt er sich zur zeitlosen Zugänglichkeit von Werken, fordert nicht länger den durch historische Vorkenntnisse gefilterten Blick, sondern läßt einen vorbehaltlosen Empirismus zu. Zum anderen glaubt er an die Konstanz großer Themen, projiziert die Beschäftigung des Menschen mit dem Menschen auf die überzeitliche Folie von Grunderfahrungen, wenngleich er aber nachfolgend durchaus die temporäre Gebundenheit, Wechselfälligkeit und Relativierung der "Urbilder" anerkennt. Und so voraussetzungslos ist ja auch bei näherer Betrachtung seine Sicht nicht. Er operiert vielmehr mit einer ganzen Reihe von Axiomen.

Doch kehren wir unter von Matts Postulat der unmittelbaren Erkenntnisfähigkeit zu der rätselhaften Ausgangssituation zurück, die so hartnäckig der kollektiven Analyse widerstand. Was ist nun die Funktion der Archäologie im Konzert der Fächer? Kurz gesagt: Ihr fällt die entscheidende Aufgabe zu. Sie allein vermag zu begründen, daß die aktualisierte und in einer Frau personalisierte Version des uralten Menschenflugs als gegeben akzeptiert werden muß, denn wenn sich die Teile des zerbrochenen Krugs Bruch auf Bruch anpassen lassen, müssen sie schon ursprünglich zusammengehört haben. Hier bewährt sich die archäologische Maxime, dem Artefakt vor jedweder Interpretation Aussagegültigkeit zu attestieren - primum monumenta, deinde philosophia. Der, dem die Scherben zunächst aus verschiedenen Perioden zu stammen schienen, muß beschämt seinen Irrtum eingestehen. Das Werk lehrt ihn eines Besseren.

So rückt die Archäologie auch zum Zentrum aller Wissenschaften auf. Sie hält ihnen den Spiegel modernistischer Pseudorationalität vor, sie reißt die Konstrukte internalisierter Systeme nieder, erweist Erkenntnistheorien als Phantome und bringt naturwissenschaftliche Setzungen wie geisteswissenschaftliche Empirie zu Fall, indem sie deren statistische Grundlagen auf das reduziert, was sie wirklich sind: zufällige phänomenologische Akkumulationen ohne szientifische Verwertbarkeit. Und sie führt die Fiktion zeit- und raumbezogener Kausalitätsentwürfe ad absurdum.

Nur eine Bemerkung noch. Vielleicht ist es ganz gut, daß solche Archäologie sich vornehmlich mit Zeitläuften beschäftigt, als Himmelfahrten - von Elias bis zu römischen Kaisern - noch auf der Tagesordnung standen, gelegentliche Abstürze nach Art des Ikaros einberechnet.

Benutzte Literatur:

B. Strauß, Der junge Mann (1984); 4(1997)
P. v. Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur (1989); 3(1996)

| Home | Seite 1 von 1 |