STEFAN KARWIESE  
O Mammae Meae
oder Wie Ich Um Meine Brüste Kam Und Sie Doch Wiederfand

Kein Sterblicher darf glauben, daß Götter - auch wenn sie noch so obsolet geworden sein mögen - sich einfach auflösen und verschwinden. Man hat unsere Bilder von den Sockeln gestürzt, unsere Tempel niedergerissen, unsere Priester inhaftiert und unsere Gläubigen verjagt. So mußten auch wir gezwungenermaßen uns zurückziehen und die Menschen sich selbst und ihren neuen Religionen überlassen. Aber wir sind immer noch da, wenngleich das keiner bemerkt. Merkwürdigerweise haben wir zuletzt eine neue Art von Adepten erhalten, die zwar keineswegs an uns zu glauben gedenken, aber doch alles über uns zu wissen begehren. So suchen sie überall nach den Dokumenten, die unsere einstigen Verehrer insbesondere in Stein und Metall hinterlassen haben, um sie gründlich zu studieren. Damit wollen sie aber keineswegs unser irdisches Dasein wiederbeleben, sondern sind einzig und allein darauf aus, unsere tiefsten Geheimnisse zu enthüllen, wieder aber nicht, um in dieselben eingeweiht zu werden, sondern vielmehr um sich mit ihren Entdeckungen zu brüsten. Aber wenn ich mich so umsehe, wurde mit wenigen Ausnahmen bisher nicht sonderlich viel gelüftet, und selbst das nicht bis in die verborgenen Tiefen hinein.

Diese Leute haben demnach noch unglaublich viel zu tun. Doch ich weiß heute schon, daß ihr Erfolg stets nur Stückwerk bleiben wird. Denn wir haben unsere Priester und Initiierten gut auf die Wahrung der Geheimnisse eingeschworen, so daß sie in Marmor und Bronze nur Allgemeineres gehauen und gegossen haben, das jeder wissen darf. Und wie nicht anders zu erwarten, sind die meisten Schlußfolgerungen oder sogenannten Entschlüsselungen unserer unermüdlichen Forscher glattweg in die Irre gegangen. Andererseits darf auch nicht verwundern, daß schon in jener Zeit, da wir noch die irdischen Reverenzen zu erhalten geruhten, so manch einer, der überhaupt keine Ahnung hatte, die abenteuerlichsten Thesen aufstellte und somit völlig unmögliche Ansichten in die Welt setzte, die oft noch immer hochgehalten werden. Im Grunde haben wir auch gar nichts dagegen...

Mir, der Großen Göttin, die zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Apoll von Zeus gezeugt und Leto empfangen, hat man dabei besonders übel mitgespielt. Ich will gar nicht viel davon reden, daß man mich zunächst in den verschiedensten Gestalten sah und verehrte - das ist schließlich allen Göttern passiert: Als wilde Waldaufseherin mußte ich anfangen, die den armen Forstarbeitern und Wanderern, freilich auch all den Wilderern gehörig Schreck einzujagen hatte, bis man mich schließlich elegant ausstattete und als vornehme, wenn auch nur leicht geschürzte, Hegerin durch Wald und Wiesen streifen ließ, mir dabei aber gleich auch immer-währende Jungfräulichkeit verpaßte (das war nicht ganz so arg, denn was mir da draußen so an Kerlen begegnete, war meist jagdtolles Gesindel und ohnehin an nichts anderem als der 'Strecke' interessiert; nur der eine wäre ganz schön gewesen, aber da er mich nicht nur nackt, sondern auch mit meinen kleinen Brüsten sah, blieb mir nichts anderes übrig als ihn dafür schrecklich zu bestrafen: denn was hätte der doch sonst noch alles über mich erzählt...)

Man machte mir jetzt schöne Bildwerke, die mich in überwältigender Schönheit mit allen weiblichen Reizen zeigten (was hätte da doch der bewußte Frevler anrichten können!), und nannte mich Artemis. Ich habe nie verstanden, wie die Menschen zu solch ausgefallenen Namen der Götter kommen, denn in Wahrheit heißen wir doch ganz anders; aber sie machen sich einfach nicht die Mühe oder sind nicht ernst genug, das herauszufinden. Wenn man wenigstens von mir als einer Art Themis gesprochen hätte, galt ich doch weithin als Ordnungshüterin... Man scheint mich jedoch am ehesten als die Frische (zumindest bei den Griechen mit ihrem artemes) empfunden zu haben, da ich ja die ganze Zeit im Freien verbrachte. Natürlich hatte man mit mir immer seine Mühe, denn ich galt schließlich auch noch als Zauberin, die mit Vorliebe in mondhellen Nächten ihre Pfeile abschoß. Nun hatte ich tatsächlich eine standesgemäße Bewaffnung, nämlich eine prachtvolle Bogentasche samt Köcher mit genügend treffsicheren Pfeilen und einem Bogen, der bekanntlich aussieht wie ein Halbmond. Da die Menschen aber ständig alles durcheinanderbringen, hat man mir den Bogen erst eines späteren Tages in die Hand gedrückt, da ich vor allem eine Mondgöttin war (soviel hatte man immerhin bald erraten).

Als solche haben mich vor allen anderen die Amazonen verehrt, die auch so famose Bogenschützen waren. Deshalb sollen sie keine rechte Brust gehabt haben, da diese beim Spannen des Bogens nur im Wege sei (was an sich wieder so ein Unsinn ist). Das ist nun natürlich auch so eine typische Geschichte, denn ich kann mich gut daran erinnern, daß manche dieser Amazonen ziemlich männliche Wesen waren, die nur auf der - beim bogen-spannenden Schießen gegen den Feind gekehrten - linken Schulter und Brust einen gewölbten Harnisch trugen. Ich als Göttin brauchte derlei ja ohnehin nicht, und meine kleinen Brüste waren beim Schießen nie hinderlich.

Andere gaben mir andere Namen, jeder nach seinen eigenen Vorstellungen. Damit verbunden waren viele neue Funktionen, so daß ich die Hände voll zu tun hatte und ständig meinen Bogen, mein ureigenstes Standessymbol, weglegen mußte. Recht gut gefallen hat mir der Name Diana, den man mir angeblich so wie in Magnesia jenen einer Leukophryene wegen meiner Leuchtkraft gegeben hat: Jedoch kann das nicht stimmen, denn dann wäre ich als "Taghelle" aufgefaßt worden - was aber habe ich mit dem Tageslicht gemein? Daß man mich stattdessen als eine sehr ranghohe Göttin ansah, geht daraus hervor, daß ich in Rom als Diana eben neben Dios gestellt wurde.

Insgesamt sind mir in den langen Zeitläuften, da mich die Menschen rings um das große Mittlere Meer verehrten, recht verschiedene und merkwürdige Dinge widerfahren. Am seltsamsten aber ist es mir in Ephesos ergangen, wo man mich von Anbeginn zwar richtig einschätzte, zugleich aber auch unangenehm verkannte.

Zunächst wurde mir außerhalb der Stadt (worüber ich ganz froh war, denn das Getümmel darin erschreckte mich) ein Heiligtum eingerichtet, dessen Grenzen ich zu beschützen hatte. Das führte dazu, daß sich bald die ganzen reichen Proleten der Gegend bei mir einfanden, um ihre Schätze in sicheren Verwahr zu geben. Natürlich mußten meine Leute von etwas leben, und so haben wir den Depositzins erfunden - was konnten wir so doch aus den oft ausländischen Neureichen alles herausholen! Es kam auch anderes Gesindel daher, das behauptete, ich müßte es vor diesem oder jenem beschützen. Da nun freilich genügend Gute auch darunter waren, habe ich stets meine Pflicht getan. Und natürlich mehrten sich ständig die Opfergaben zahlloser dankbarer Geretteter oder sonstiger Schutz- und Hilfeflehender.

Eine nicht vorhergesehene Folge war indessen, daß man mein zunächst zwar monumentales, aber schmuckloses Bild (ich hatte es mit Hilfe von Vater Zeus spektakulär vom Himmel herabfallen lassen) mit allem möglichen Dekor zu behängen begann, der im Laufe der Zeit immer üppiger wurde und mich am Ende wie ein Panzer schwer umhüllte (Die Griechen haben mich vielleicht sogar deshalb Artemis, "die Behängte" wegen ihres artein, genannt.) Dabei wurden mir meine Brüste schließlich ganz plattgedrückt, so daß die Priester, die im Gegenteil über ganz stattliche Brüste verfügten, mich nur noch schamhaft verhüllt ließen. Es entstand damals das Tabu, daß es bei Todesstrafe niemand (Außenstehender) wagen dürfe, mein wahres Bild zu sehen, und ich war es sehr zufrieden. Aber es war nun einmal geschehen - ich hatte praktisch überhaupt keine Brüste mehr.

Ungern erinnere ich mich an jene Tage zurück, da ich eigentlich sogar "hinter" die Jungfernschaft zurückgerutscht war. Das hatte noch einen weiteren Effekt: Bilder von mir, die man dem breiten Publikum präsentierte, begannen entweder erst über der Brustlinie oder zeigten mich nur en miniature (immer als hurtige Jägerin, versteht sich), doch in den meisten Fällen hat man mich überhaupt allein mittels gewisser Symbole, nämlich Biene, Hirsch und Palme, erscheinen lassen. Selbst ich als Göttin rätsele heute noch daran, wie man, d.h. meine Leute, die Priester, auf all das gekommen ist, denn während ich zwar anfänglich, als ich noch frei war, des öfteren einen Hirschen erlegte, habe ich Bienen stets als leicht erzürnbare Insekten gesehen, die einen sinnlos umschwirren und sich überhaupt nicht zähmen lassen (meine Jagdburschen, die Kureten, haben es trotz langwieriger Mühen nicht geschafft, die Bienen außer zur fallweisen Honigproduktion in irgendeine Ordnung zu bringen). Endlich die Palme ist mir gänzlich fremd, ich habe nie in Palmenhainen zu tun gehabt, aber wenigstens die Datteln, die man mir brachte, sind nie alt geworden.

Am Ende blieb freilich nichts weiter übrig, als mein Bild, wie es im Innersten unzugänglich für Uneingeweihte stand, doch zu publizieren. Jedoch nahm das seine Zeit. Denn zunächst mußte mein Dekor vervollständigt werden. Neben den verschiedensten Details, auf die ich hier gar nicht weiter eingehen möchte (wie z. B. einen Sternzeichen-Kranz auf meiner Brust: bin ich etwa eine Astrologion?), verpaßte man mir schließlich ein gewaltiges Gehänge aus eiförmigen Gegenständen, die auf den ersten Blick wie ein Set von Reserve-Brüsten aussahen. Darum hat auch gegen Ende meiner Erdentage einer der neuen Heiligen mit geilem Finger auf mein Bild gezeigt und dabei von meinen mammae gesprochen (Mamma mia!), doch hätte er sehen müssen, daß das biomorphologisch gar nicht ging - aber vermutlich läßt sich das bei ihm tiefenpsychologisch erklären... Doch scheint es sogar meinen neueren Erforschern trotz mehrerer z.T. vielversprechender Ansätze einfach nicht gelingen zu wollen, die richtige Deutung zu geben. So tippen die einen auf Eierfrüchte (bin ich etwa eine Marktfrau und verkaufe Melitsanes?), andere auf Datteln (wenigstens 'mein' Baum, die Palme, trägt solche - aber gleich derart gewaltige?), wieder andere waren für (Straußen?!-) Eier, Trauben, Nüsse und Eicheln (mir reichte schon die Kette aus Eicheln, die man meinem Bild umgehängt hatte, als hätte ich auch nur das geringste mit diesem sexistischen Symbol zu tun), ja Glieder von Schmuckketten und ähnliches mehr. Amüsant fand ich immerhin jene Theorie, wonach meine "Brüste" in Wahrheit die gegerbten Hoden jener Stiere seien, die man mir - ausgerechnet mir! - zu Ehren im Tempelhof geopfert habe: Ich gebe ja zu, daß solche Schlachtungen stattfanden, aber bei den Hekatomben, die man darbrachte, wäre mein Bild wohl nicht bloß unter solchen Ballons ver-, sondern mit diesen bald auch in die Lüfte entschwunden.

Warum sieht denn keiner, daß alles ganz anders war? Freilich, man hat da unter anderem auch die Meinung vertreten, ich sei eine Weiterentwicklung der Großen Mutter, die einstens über Asia herrschte, und ging damit nur um ein geringes fehl. Heute darf ich enthüllen, daß ich nicht mehr und weniger war und bin und bleiben werde als die Dreifaltige Göttin, die in sich Mädchen, Frau und Alte vereinigt. Haben das nicht immer schon die "Funktionen" verraten, die man mir nachsagte: Jungfräuliche Hüterin eines Asylons, Geburtshelferin und Göttin der Nacht? Haben das nicht immer schon die Dinge und Zeichen verraten, in die man mich steckte und die man mir umhängte: kurzes Röckchen, Frucht-girlanden und Mondsichel? Und haben das nicht immer schon die Diener verraten, mit denen man mich umgab: Mädchen nach Jungfernprobe, Matronen und Eunuchen? Ja, ich bin es, die Uralte, die den Menschen von der Geburt bis zum Tode begleitet.

Obwohl all dies offenlag, haben nur wenige das Richtige gefolgert. Dabei hätten die Dinge doch schon so gut gepaßt : Eber und Stier, Hirsch und Biene, Pfeil und Bogen, Palme und Mondsichel, Wollbinden und Fackel, Kränze, Ketten und Zodiakos. Auch wenn diese mich vor allem als eine Göttin der letzten Zuflucht, des Todes erweisen, war ich doch die Göttin der Wiederkehr, des Neuen Lebens : Und das kam aus meinen Brüsten, wie bei so vielen anderen Göttinnen, die vor mir waren und nach mir kamen.

Aber meine Brüste gingen verloren, und so versuchten meine Priester, mir Ersatz zu verschaffen. Man begann also, mir Brüste zu spenden, legte mir Abbildungen von solchen an, bis ich aussah wie ein aufgerichtetes Muttertier. Dieser unästhetische Anblick erzürnte Vater Zeus, der seinen Blitz auf meinen Tempel schickte, in dem auch mein Bild verbrannte. So mußten sich die Priester beim Wiederaufbau etwas Neues einfallen lassen, womit insonderheit der Große Gott besänftigt werden konnte: Und sie schlachteten ihm zu Ehren noch mehr Stiere als je zuvor und weihten ihm deren Hoden, was Zeus sogar zu gefallen schien. (An dieser Scheußlichkeit war freilich der persische Einfluß schuld - dessen Mithras schon ein kulinarisches Interesse gehabt haben dürfte...). Schließlich verfiel man darauf, auch meinem neuen Bilde solche anzuheften, so daß ich bald aussah wie eine Palme mit mächtiger Dattel-Traube.

Es gelang mir einfach nicht, meine Brüste im Bilde wiederzuerhalten. Ich bin deshalb jenem alten Manne geradezu dankbar, der mich später als polymastos bezeichnete, denn wenngleich er damit irrte, traf er doch im Kerne das Richtige - es war immer nur um meine Brüste gegangen: die jungfräulich zarten, mütterlich reifen und greisinnenhaft schlaffen.

Artemis

Damit gebe ich heute endlich das Große Geheimnis preis, das so einfach ist, daß es niemand wirklich zu entschleiern vermochte. Die letzte Wahrheit um mich hatten die Menschen zu aller Zeit stets vor sich und erkannten sie nicht, auch wenn sie viele Einzelheiten errieten. So erfahret denn, was ich bin:

Meine beiden weißen Brüste sind Monde, die kommen und vergehen, zunehmen und abnehmen. Im Anfang war es nur eine, da es nur einen Mond gibt (solcherart waren die Amazonen folgerichtig ausgestattet), aber da das Weib nicht einbrüstig sein kann, verlieh ich selbst mir das Pendant. Sehet mich als den Mond, der wie des Mädchens jüngferliche Brust mit schmaler Sichel neues Leben verkündet, wächst und wie eine Mutterbrust anschwillt und das Dunkel mit milchigem Licht ausfüllt, um wieder abzunehmen, zu erschlaffen und schließlich ganz zu verschwinden - immer und ewig aufs Neue, ohne Unterlaß durch die Sternbilder kreisend von Anbeginn bis zum Ende der Welt. Sehet also noch in zukünftigen Generationen, wie ich in unendlicher Folge um meine Brust komme und sie jedesmal wiederfinde, Euch zum Heile - nicht zum Vergnügen...

In meinem 5060. Jahre diktiert meinem Chronisten

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