GERHARD HORSMANN  
Vinum viris rabiem inportat (Plin. n. h. 14,116)
Zur Bedeutung des Weins für Aufstieg und Niedergang Roms

Traditionelle Methoden und Erklärungsmodelle stellen gerade in den Geisteswissenschaften häufig eine bedauerliche geistige Fessel dar, die historische Erkenntnis behindert und der Mythenbildung Vorschub leistet. Nur zu selten gelingt es genialen Köpfen, diese Fessel abzustreifen und danach zu wahren geistigen Höhenflügen anzusetzen, nur zu Recht belohnt durch überraschende, revolutionäre, schwierigste Fragen abschließend klärende Ergebnisse. Nicht von ungefähr hat der Jubilar auch hier Maßstäbe gesetzt, als er die rätselhaften Terrainlinien auf minoischen Fresken in schlagender Beweisführung mit den natürlichen, der Fellreinigung dienenden Bewegungen des Minotaurus korrelierte (1). Diesem Vorbild verpflichtet müssen die verbleibenden Deutungsdefizite energisch angegangen werden.

Als typisches Beispiel kann der Aufstieg Roms zur Weltherrschaft gelten: Bereits die antiken Autoren, u. a. Polybios und Livius, haben die Mär verbreitet, die Qualität des römischen Staates, seine Verfassung und insbesondere seine militärische Leistungskraft seien für diesen Aufstieg ursächlich (2). Dergestalt irregeleitet steht die Forschung bis heute im Banne dieser vordergründigen Deutung (3) und damit in einer Sackgasse, so daß die im Sinne des Thukydides "wahrste Ursache" (4) für Aufstieg und Niedergang der römischen Welt trotz intensiver Anstrengungen bislang unerkannt geblieben ist (5).

Nun lehrt die Empirie, daß weltbewegende Ereignisse immer von unauffälligen, natürlichen Dingen ausgelöst werden (6). In den Spuren dieser Erkenntnis zeigt die folgende, tiefschürfende Untersuchung, daß es der Wein war, der Roms Schicksal als wahre Ursache nahezu jedes Geschehens bestimmte. Nicht zufällig betont ja der ältere Plinius, im Wein liege Wunderkraft und im Wein liege Wahrheit (7). Diese allgegenwärtige Wirkkraft des Rebensafts läßt sich bereits bei den 'kleinen' Dingen des römischen Alltags, bei den zwischenmenschlichen Beziehungen schlüssig nachweisen. Der unaufgeklärten Meinung gilt der Kuß als Ausdruck des Grusses bzw. der Zuneigung. Wissenschaftlich fundiert betrachtet erweist sich diese Erklärung als so abwegig wie die Erklärung der römischen Weltherrschaft durch die Power der römischen Legionen. In Wahrheit z ei chnet der Wein als letzte Ursache für die Entstehung des Kusses verantwortlich. Zahlreiche zuverlässige antike Zeugen berichten nämlich übereinstimmend, daß der Kuß von den römischen Männern als Alkoholtest eingeführt wurde, da es den römischen Frauen nicht gestattet war, Wein zu trinken (8). Nur am Rande sei angemerkt, daß die Männer Roms dieses Privileg mit eiserner Konsequenz verteidigt haben - eine Haltung, die heutigen Erfüllungsgehilfen der Emanzipation zu denken geben sollte (9).

Bereits die Genese des Kusses offenbart somit in aller Deutlichkeit das grundlegende Problem der Pseudokausalität, dem sich der Historiker ständig zu stellen hat, da es eine angemessene Würdigung der Wirkung des Weinkonsums auf die historischen Prozesse verhindert (10). Daß diese Wirkung auch auf bedeutende politische Ereignisse zwar mächtig war und ist, jedoch häufig der Geschichtsklitterung anheimfällt, kann exemplarisch an der Schlacht von Actium illustriert werden, jener Schlacht also, die am 2. September 31 v. Chr. mit der militärischen Entscheidung zugunsten Oktavians die Weichen in die Kaiserzeit stellte. Als Gründe für die Niederlage des Antonius betont die communis opinio seine strategische und logistische Abhängigkeit von Kleopatra sowie seine militärische Unterlegenheit, insbesondere aufgrund der von Agrippa meisterhaft kommandierten gegnerischen Flotte (11). Diese verdächtig objektivierten Gründe dürften zum Schutze des Antonius propagiert worden sein, wobei es sich vermutlich um eine frühe Form der späteren clementia Augusti handelt. Jedenfalls wird sich das kritische Auge davon nicht blenden lassen und den entscheidenden subjektiven Gründen auf die Spur kommen, d. h. dem persönlichen Versagen des Antonius, für das - der verständige Leser ahnt es schon - selbstverständlich der Wein ursächlich gewesen ist. Glücklicherweise sind Reste des tragischen Zusammenhangs, der überdies ein neues, wenig vorteilhaftes Bild des Antonius enthüllt, der systematischen Zensur entgangen.

Dort erfahren wir, daß Antonius ein berüchtigter Trunkenbold war und es diese Trunksucht gewesen ist, die ihn zugrunde richtete und seinen Gegnern unterlegen machte (12). Muß schon dieser Hinweis offensichtlich auf die Schlacht von Actium bezogen werden, so gewinnen wir letzte Sicherheit durch die Nachricht, Antonius habe in der Absicht, seinen Ruf als größter Trinker aller Zeiten zu verteidigen, sogar - wie später sein Gegner Oktavian - einen bemerkenswerten Tatenbericht verfaßt, dessen Titel "Über die eigene Trunkenheit" keiner Kommentierung bedarf. Dieses Buch habe er kurz vor der Schlacht von Actium - "schon berauscht, aber immer noch durstig" - veröffentlicht (13). Antonius und vermutlich große Teile seiner Flottenmannschaft haben demnach nicht als Kämpfer, sondern als Kampftrinker in die Schlacht von Actium eingegriffen, der epochemache nd e Sieg Oktavians ist durch den Wein bewirkt worden (14).

Deuten sich hier schon die Ursachen des späteren Untergangs der römischen Welt an, so darf gleichwohl nicht verkannt werden, daß die summi viri Roms die Waffe Wein, wohl die erste B-Waffe der Geschichte, entwickelt haben, um sie ursprünglich nicht gegen sich selbst, sondern natürlich mit großer taktischer Raffinesse gegen Feinde zu richten. Und das so erfolgreich, daß zweifellos dem Wein, nicht etwa der disciplina militaris das Attribut "Wunderwaffe" gebührt (15). In der Tat sind die Ursachen der Größe Roms ausschließlich hier zu suchen, da der Wein alle Gegner nahezu kampfunfähig Rom auslieferte. Daß diese Wunderwaffe ihre tödliche Wirkung überall entfalten konnte, ist natürlich der in keinem Teil der Welt fehlenden Bereitschaft zur Trunksucht zuzuschreiben, eine Disposition, die den Römern ebenso wohlbekannt war wie ihre selbst kriegerischste Vö l ker vernichtenden Folgen (16). Dieses strategische Konzept, eine raffinierte römische Spielart des equus Troianus, bot den imperialistischen Plänen Roms die geeignete Basis. Geradezu das Paradigma der Umsetzung dieser Strategie stellt die Eroberung Galliens dar.

Hauptsächlich durch die Ergebnisse der Amphorenforschung wissen wir seit kurzem von regen Handelsgeschäften zwischen Gallien und Rom, bei denen gallische Sklaven nach Rom und dafür italischer Wein nach Gallien geliefert wurden (17). Die Sklaven für diesen Handel rekrutierten sich aus den ständigen gallischen Stammesfehden. Die Deutung dieses Befundes drängt sich geradezu auf. Die Zerrüttung der gallischen Widerstandskraft verfolgte Rom mit einer Doppelstrategie: Einerseits überschwemmte man das Land mit Wein für die Trinkwilligen, andererseits unterlagen die Mahner in den gallischen Stämmen in den über diese Frage ausbrechenden Fehden und wurden als Sklaven nach Rom gegen neuen Stoff ausgeliefert! Welch' ausgeklügeltes Vorgehen! Nach einer gewissen Zeit waren die abstinenten und damit kriegstauglichen Gallier alle versklavt, übrig blieben diejenigen, die sich zunehmend dem Wein hingaben u nd ihre Wehrkraft allmählich zersetzten.

Diesem groben Abriß der Entwicklung könnte entgegnet werden, es sei nicht plausibel, daß die abstinenten Gallier den trinkfreudigen im Kampf unterlegen gewesen seien. Hier greift nun eine besondere Eigenschaft des Weinkonsums, welche die ganze Raffinesse der römischen Pläne offenbart.

Bevor der Wein nämlich seine jeden Widerstand brechende Wirkung entfaltet, steigert er Selbstbewußtsein, Aggressivität und Kampfkraft kurzfristig und täuscht so über seine wahre Wirkung hinweg. In der Antike schrieb man diese Wirkung besonders dem arkadischen Wein zu (18); allerdings kann nur vermutet werden, daß die Römer aus diesem Grund arkadischen Wein nach Gallien exportierten. Wie dem auch sei: Zwingend ist jedenfalls der Zusammenhang mit jenem wohlbekannten gallischen Zaubertrank, als dessen Hauptsubstanz durch intensive Forschungen vor einigen Jahren Wein isoliert werden konnte (19). So wird verständlich, daß zunächst die trinkfreudigen Gallier den abstinenten Stämmen überlegen waren, auch einige kurzfristige Erfolge gegen kleinere römische Truppenverbände, vor allem im Gebiet des Lagers Kleinbonum, erzielt werden konnten, daß bald dan ac h jedoch, als die entwaffnende Wirkung des übermäßigen Zauber(wein)trankkonsums einsetzte, ganz Gallien kampflos in die Hände Roms fiel. Den traurigen Zustand der Gallier in dieser Endphase zeigt ein Bildzeugnis, das die römische Siegespropaganda auf dem Wege der Münzprägung verbreitete (Abb. 1).

Vercingetorix
Abb. 1: Kachektisches Porträt des Vercingetorix. Denar, ca. 48 v. Chr. Crawford, RRC, Nr. 448,2. Nach J.P.C. Kent, B. Overbeck, A.U. Stylow, Die römische Münze, München 1973, Taf. 21, Nr. 82 V.

Während die Deutung als Porträt des Vercingetorix plausibel erscheint, dürfte die bizarre Darstellung des Kopfes kaum, wie die numismatische Forschung gemeinhin annimmt, die Wildheit der Gallier zum Ausdruck bringen wollen (20). Nachdem der Blick durch unsere neuen Erkenntnisse geschärft ist, diagnostiziert man in diesem Porträt vielmehr unverkennbare Spuren jahrelangen Alkoholmißbrauchs:

Die Wangen sind hohl und eingefallen, die Haare nach durchzechter Nacht völlig ungeordnet, die Augen 'dick', der Blick geht starr ins Leere - klinisch insgesamt der voll ausgeprägte Typus alkoholischer Kachexie im Endstadium (21). Vor diesem Hintergrund kann überhaupt nicht verwundern, daß dieser Mann Alesia nicht halten konnte (22).

Diese Erfolgsstrategie wurde in der Folge von Rom gegen weitere Teile des orbis terrarum angewendet - sogar gegen Indien lief bereits der biologische Präventivkrieg (23). Bekanntlich blieb der Erfolg nun aber zunehmend aus, im Gegenteil: Der Niedergang Roms begann, das römische Weltreich wurde bald selbst das Opfer angreifender Völkerschaften. Nicht etwa, daß diese mit der Wunderwaffe nun gegen Rom zurückschlugen, nein, das besorgten die Römer schon selbst. Bereits im Zusammenhang mit der Schlacht von Actium haben wir ja gesehen, wie Teile der römischen Führungsschicht im Größenwahn glaubten, immun gegen die Wirkung des Weins zu sein, der Droge aber natürlich rasch verfielen (24). In der Folge breitete sich das Übel in rasender 825) Geschwindigkeit in Rom aus.

Chronologisch läßt sich in etwa der Beginn der Kaiserzeit als terminus post quem dieser dramatischen Entwicklung festmachen. Symptomatisch erscheint z. B. der Verfall von einer Generation auf die folgende in der Familie Ciceros: Cicero selbst noch durchaus vir gravis et doctus, beseelt von altrömischem Pflichtbewußtsein, der Sohn dagegen ein gefürchteter Trunkenbold, bereits so völlig degeneriert, daß er sich nicht einmal mehr den Namen eines Gastes merken konnte und endlos immer wieder danach fragte (26). Vergab die Republik noch Ehrenbeinamen nach besiegten Feinden, Scipio Africanus oder Metellus Numidicus, so erwarb sich bereits unter dem zweiten princeps, Tiberius, der Senator Torquatus Novellius das cognomen Tricongius aufgrund seiner Trinkfestigkeit, weil er mühelos drei congii Wein, also fast zehn Liter, auf einen Zug in sich hineingoß (27). Tib er ius selbst ging mit schlechtem Beispiel derart voran, daß schon früh der Militärjargon seinen Namen Tiberius Claudius Nero in Biberius Caldius Mero umwandelte (28). Im Spiegel dieser dichten Überlieferung (29) besteht daher kein Zweifel daran, daß in der römischen Oberschicht die Trunksucht mit allen ihren sittenverderbenden Auswirkungen epidemisch zu grassieren begann.

Der Niedergang eines Weltreiches via vini setzt jedoch auch den Befall breiter Bevölkerungsschichten voraus. Dieser ist ungleich schwerer nachzuweisen, da die römische Gesellschaftsstruktur nicht nur durch den Wein deformiert worden ist, sondern auch durch die überlieferten Quellen: In diesen sind nämlich die Unterschichten im Vergleich zur Oberschicht deutlich unterrepräsentiert. Der notwendige Scharfsinn fördert allerdings trotzdem ausreichend Beweise zutage.

Erhellend wirken hier zunächst Hinweise in den juristischen Quellen, in denen sich wie noch heute das pulsierende, lasterhafte Leben besonders spiegelt. Aufmerksamkeit muß bereits erregen, daß der in severischer Zeit wirkende Jurist Ulpian in seinem Kommentar zum Kauf (emptio venditio) offenbar ausgerechnet dem Weinkauf ein eigenes Kapitel (de vini venditione) widmete (30). Korreliert dieses Gewicht des Weinkaufs in den Rechtstexten seinem Anteil an den abgeschlossenen Kaufgeschäften - woran nicht zu zweifeln ist, muß der Wein in der Kaiserzeit das Grundnahrungsmittel Nr. 1 gewesen sein. Diesen Schluß erzwingen auch weitere auffällige Details des römischen Weinrechts: Verräterisch ist etwa die Differenzierung des Kaufs von omne vinum und einer pars vini (31). Offenbar kauften immer mehr der maßlosen Zecher nicht mehr einzelne Amphoren Wein , sondern gleich die gesamten Lagerbestände eines Landgutes auf, und freuten sich dabei ganz unkritisch über den gelungenen 'perfekten Kauf' (emptio perfecta) (32). Schließlich mußten die Juristen versuchen, diese Exzesse wenigstens einigermaßen in geordneten Bahnen zu halten. Auch die geradezu unglaublichen, aber rechtlich verankerten Weinkäufe mit Aversion, der sog. Aversionskauf, und ohne Degustation (z. B. weil der Wein noch im Entstehen war), lassen sich nur durch unkontrolliertes Suchtverhalten erklären (33).

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