TONIO HÖLSCHER  
  Aktaion, die Perser und Athen
Akrostichon Nr. 2 (1)
 
 

Lange Zeit hatte die Klassische Archäologie ihre liebe Mühe mit dem umfangreichsten Schatz der antiken Bildkunst: den bemalten Vasen der archaischen und klassischen Zeit Griechenlands. Deren unermeßliche Zahl zwang die Forschung zunächst, sie in Inventaren zugänglich zu machen: zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Miniaturfotos nach dem Vorbild von Briefmarkensammlungen, bald darauf in Werklisten von Malern und Werkstätten nach dem Muster von Adressbüchern; schließlich in thematisch geordneten Katalogen nach dem Beispiel von Warenhausangeboten. Heute blicken wir auf diese Phase des Inventarisierens zurück wie die ersten neolithischen Ackerbauern auf die Epoche der Jäger und Sammler oder wie Winckelmann auf die Zeit der barocken Antiquare: mit dem befreiten Selbstgefühl postmoderner Erklärungsmodelle. Als ein besonders ergiebiges Modell hat sich im Bereich der monumentalen Denkmäler der Antike seit längerer Zeit das der politischen Entschlüsselung der Bildthemen erwiesen. Ist es auch auf die Vasen anwendbar?

Aristoteles hat es bekanntlich längst gewußt: Der griechische Mensch war ein "zoon politikon", ein politisches Wesen. Wo aber, so muß man fragen, können die politischen Züge der Griechen deutlicher in Erscheinung getreten sein als in den zentralen Situationen des griechischen Lebens, bei den Götterfesten, beim Symposion, bei Hochzeiten und Grabritualen - also in den Situationen, in denen die reich bemalten Vasen benutzt wurden? Wo können die politischen Diskurse stattgefunden haben, wenn nicht bei diesen Anlässen? Was liegt also näher, als auf den Vasen die großen, die gesamte Bürgerschaft bewegenden Themen der Politik zu suchen?

Charakteristische Darstellungen aus der Zeitgeschichte fehlen jedoch auf den Vasen bekanntlich weitgehend. Die Forschung hat das bedauerlicherweise hingenommen, bis auf seltene Versuche einer Identifizierung politischer Sujets, die jedoch wenig Akzeptanz gefunden haben. Dagegen wurde ein anderer Bereich von Themen noch viel zu wenig auf politische Signifikanz hin untersucht: Das reiche Repertoire von Mythen auf attischen Vasen. Hier wurden zwar die großen Heroen Theseus und Herakles als politische Helden herausgestellt - Herakles für Peisistratos, Theseus für Kleisthenes -, aber dabei konnte man sich immer zugleich auf monumentale öffentliche Denkmäler stützen. Eine Herausforderung für ein Modell politischer Interpretation stellen jedoch erst die vielen kleineren Gestalten des Mythos dar, die fast ausschließlich in der "Kleinkunst", vor allem auf Vasen erscheinen. Es ist zunächst ein reines Vorurteil, daß solche Mythenbilder keine politische Bedeutung haben könnten. Die folgenden Überlegungen zu Bildern des Aktaion sind in diesem Sinne als Testfall für ein allgemeines Modell der politischen Interpretation gemeint.

Heute sind mindestens 15 Darstellungen des Aktaion auf attischen Vasen des 6. und 5. Jh. v.Chr. bekannt. Thema ist durchweg der Tod des jungen Jägers, der in frevelhafter Weise Artemis nackt beim Baden beobachtet hatte und dafür von der Göttin bestraft wird. Die Bilder zeigen eine aufschlußreiche Entwicklung (2). Auf schwarzfigurigen Vasen bricht Aktaion unter dem Angriff der Hunde zusammen, ohne daß irgendeine Ursache seines Schicksals erkennbar würde. Ab 490-80 aber treten bedeutungsvolle Veränderungen ein, zuerst und am deutlichsten auf einer Amphora in Hamburg (Abb. 1): Artemis selbst tritt als strafende Göttin auf, und Aktaion trägt ein Rehfell, zum Zeichen seiner folgenreichen Verwandlung, durch die er zum Angriffsziel seiner eigenen Jagdhunde wurde. Erst dadurch wird der Mythos zu einem moralisch-theologischen Lehrstück. Danach wird das Thema überraschend beliebt, um jedoch nach der Mitte des 5. Jhs. wieder an Häufigkeit abzunehmen. Erst im 4. Jh. erfährt es im fernen Apulien eine zweite Blüte.

 

Artemis Aktaion
Amphore in Hamburg. Abb. 1a (links) Artemis, Abb. 1b (rechts) Aktaion.

Entwicklungen dieser Art werfen die Frage nach historischen Hintergründen auf. Die neue, vertiefte Auffassung dieses Themas genau zur Zeit des ersten Angriffs der Perser auf Athen und des ersten griechischen Sieges bei Marathon dürfte kaum ein Zufall sein: Haben doch die Perserkriege allgemein in Griechenland einen epochalen Wandel der Mentalität hervorgerufen, der in vielen neuen Themen der Literatur und Bildkunst beredten Ausdruck fand. In der Tat folgt die Entwicklung der Aktaion-Bilder einer statistischen Kurve der Beliebtheit, die recht genau den Zahlen der Bilder von Kämpfen der Griechen gegen die Perser entspricht (3): Diese setzen nach 490 v.Chr. ein, erreichen ihren Höhepunkt bis 450 v.Chr. und treten danach rasch hinter anderen, friedvolleren Bildern der Perser und des Orients zurück. Es war die Generation der Perserkriege, die diese Themen zur höchsten Aktualität erhob.

Nimmt man diese chronologische Entwicklung der Aktaion-Bilder für mehr als einen Zufall, so ergeben sich erstaunliche Bezüge zwischen Mythos und Zeitgeschiche. Aktaion war der Inbegriff des Frevlers gegen die Götter, den eine gerechte Strafe getroffen hatte. Dies war aber die zentrale Kategorie, unter der Aischylos wie Herodot den Angriff der Perser gegen Griechenland bewertet haben: Hybris, Frevel gegen die von den Göttern gestiftete Ordnung der Welt, hatten den Perserkönig angetrieben - und die Götter hatten die Strafe unmittelbar folgen lassen. Die Theologie der göttlichen Ordnung ist dieselbe im Mythos und in der Gegenwart.

Im Bereich des griechischen Mythos konnte kein anderer Held die Perser in ihrer Hybris so gut präfigurieren wie der Jäger Aktaion. Die Jagd war bekanntlich eine Domäne der Oberschichten und vor allem der Herrscher in allen Reichen des Orients, insbesondere aber bei den Persern. Im Kampf gegen wilde Tiere erprobten und demonstrierten sie symbolisch ihre höchste Mannhaftigkeit. Aktaion ist das griechische Pendant zu diesem zentralen persischen Ideal. Darüber hinaus aber war die Jagd die Vorbereitung und zugleich das kulturelle Pendant zum Krieg. Der Jäger Aktaion eignete sich damit vorzüglich als mythisches Exempel für die persischen Kriegsherren. Mehr noch: Wenn er im Mythos zum Frevler wurde, so wurde er zu einem offensichtlichen Paradigma für die Hybris der Aggressoren aus dem Osten, vor allem der persischen Großkönige.

Sehen wir darüber hinaus auf die Einzelheiten des Mythos. Aktaion ist ein Eindringling in den Bereich der Artemis. Genau hierin aber bestand bekanntlich die Verfehlung der Perser: Sie waren in einen Bereich eingedrungen, der ihnen nicht zustand. Es war jenes Land der Griechen, in dem die Tempel und Altäre der Götter standen, das dadurch ein Land der Götter war. Deren Standbilder und Heiligtümer hatten die Perser niedergebrannt und geplündert (4): Aktaions frevlerischer Blick, der die Integrität der Sphäre der Artemis verletzt hatte, ist offensichtlich die mythische Übersetzung der Schändung der sakralen Bereiche griechischer Götter durch die persischen Marodeure.

Tod und Verderben bringt Artemis, Objekt des Frevels und zugleich Urheberin der Strafe, nicht nur Aktaion, sondern auch den Persern. Ihr brachten die Athener bekanntlich zum Dank für den Sieg bei Marathon ein jährliches Opfer von 500 Ziegen dar (5). Zehn Jahre später wurde die anfahrende Kriegsflotte des Xerxes bei dem nach ihr benannten Kap Artemision von den Griechen in der ersten großen Seeschlacht geschlagen. Beide Male war Artemis die Göttin der Strafe für den Frevel des Angriffs. - Kein Vasenmaler hat das großartiger dargestellt als der Pan-Maler auf dem Krater in Boston, wo außer den Hunden, als Werkzeugen der Bestrafung, die Göttin selbst erscheint und mit Pfeil und Bogen das Verderben auf den Frevler abschießt (Abb. 2) (6).

Krater in Boston
Abb. 2: Krater in Boston
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