SABINE FÖLLINGER  
Fisch oder Fleisch?: Intertextualität als Konstituente antiker gastronomischer Literatur

Als wichtiges Erbe der Antike, das wegweisend für Europa und so mittelbar auch für den Rest des Erdkreises wurde, gilt die Entstehung der Literatur in ihren mannigfachen Auffächerungen. Doch während sich die Klassische Philologie stets gerne mit den Genera von Epos, Drama und Lyrik und in den letzten Jahren auch zunehmend mit dem der Fachliteratur beschäftigte, blieb eine literarische Spielart ein ungeliebtes Stiefkind der Forschung: die gastronomische Literatur, wobei unter diesem Begriff im folgenden die von Bilabel in seinem grundlegenden RE-Artikel (1) voneinander geschiedene Kochbuchliteratur und Deipnonliteratur zusammengefaßt werden soll - zumal die Grenzen, wie gerade das unten ausgeführte Beispiel Archestratos zeigt, fließend sind.

Die Tatsache der Vernachlässigung der gastronomischen Literatur ist um so bedauernswerter, als bereits Odysseus in der mit der Ilias am Beginn der Literaturentwicklung stehenden Odyssee die universale Erkenntnis formuliert: "Keine angenehmere Befriedigung gibt es, meine ich, als wenn Freude im ganzen Volk herrscht und die Speisenden, in Reihen sitzend, in den Häusern dem Sänger zuhören, und neben ihnen sind die Tische vollbeladen mit Brot und Fleisch, und den Wein schöpft der Mundschenk aus dem Mischkrug, bringt ihn herbei und füllt ihn in die Becher." (2) Schon hier ist die innige Verbindung von musischer Kunst und gastronomischem Erlebnis - ja, man kann geradezu von 'Erlebnisgastronomie' sprechen - unmißverständlich ausgedrückt: Das 'Behagen an der Kultur', im Begriff τέρπεσθαι faßbar, (3) entsteht aus der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Sinnenerlebnisse. Doch während in den letzten Jahren verstärkt die Funktion des Symposions, des Miteinandertrinkens, für die Entstehung der griechischen Literatur untersucht wurde, (4) nämlich als "Vorführ-Ort, Experimentier-Raum, Umschlagplatz und Transportmittel für die entstehende Literatur", (5) fand umgekehrt der Niederschlag des somatischen τέρπεσθαι in der griechischen Literatur nicht genügend Beachtung von philologischer Seite - zu banal schien das Sujet. (6) Dieser Mißachtung gilt es entgegenzutreten. Freilich kann der hier vorliegende Beitrag nur den Rang einer Pilotstudie beanspruchen - der ganze Komplex "Essen als Literatur" wäre in einem interdisziplinär-komparatistischen Großprojekt näher zu untersuchen. (7)

Unser Hauptaugenmerk soll hier der in der Forschung noch zu wenig beachteten Tatsache gelten, daß auch für die gastronomische Literatur der Antike die Intertextualität eine tragende Rolle spielte. Intertextualität, das heißt: die Beziehung eines neuen Literaturwerkes zu einem schon vorhandenen Literaturwerk, und der mit der Erkenntnis dieser Beziehung verbundene Genuß von seiten der Rezipienten war, wie gerade jüngere Forschung herausgearbeitet hat, (8) ein tragendes Element in der antiken Literaturproduktion und -rezeption. Als eng verbunden hiermit kann man die bekannte Tatsache betrachten, daß antike Literaturproduktion auf dem Prinzip der μίμησις und ζήλωσις bzw. "aemulatio" und "imitatio", also der wetteifernden und die Überbietung anstrebenden Nachahmung beruhte. Wie sehr dieses Prinzip auch die Produktion gastronomischer Literatur bestimmte, sei im folgenden gezeigt:

Zentrales Vorbild für die späteren Autoren sowohl belehrender opsartytischer als auch eher auf Unterhaltung ausgerichteter Deipnonliteratur dürfte die Beschreibung des κυκεών, des berühmten Heldentrankes der Ilias, gewesen sein, der als die Handlung neu initiierendes Movens durchaus mit dem Hauptmovens des Epos, der μῆνις Ἀχιλῆος, verglichen werden kann. (9) Ihre Ingredienzien - Gerste, Wein und Honig - preiszugeben, scheute sich der erste Dichter des Abendlandes nicht, er verriet aber keinesfalls die genaue quantitative Zusammensetzung und begründete damit eine Tradition der opsartytischen Verschweigetechnik, die sich durch die gastronomische Literatur der Antike bis zu dem römischen, unter dem Namen des Apicius überlieferten Kochbuch durchhielt, was die modernen Rezipienten zu - nicht immer erfolgreichen - Selbstversuchen zwang. (10) Wir sehen also, daß Homer, wie für die ganze folgende Literatur, so auch für das Kochbuch normativ wurde - ein in seiner Bedeutung völlig vernachlässigter Punkt.

Die Auseinandersetzung mit Homer ist insbesondere für den Bocuse der antiken Kochliteratur von Bedeutung: für Archestratos von Gela in Sizilien, das bereits in dieser Zeit als Ort verfeinerter Küche galt (11) - im Gegensatz etwa zu Sparta, das man als das gastronomische England der griechischen Antike bezeichnen könnte, (12) wie der angebliche Ausspruch eines Sybariten klar macht: "Natürlich sind die Spartaner die tapfersten Männer der Welt. Jeder, der nur irgendwie bei Trost ist, würde lieber zehntausend Tode sterben als sich ein so schlechtes Essen vorsetzen zu lassen." (13) Archestratos verfaßte wohl um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. (14) eine gastronomische Dichtung in Hexametern, deren genauer literarischer Standort nicht ganz klar umrissen ist. Während Bilabel und Martin das "Leben in Luxus" (Ἡδυπάθεια) unter die rein didaktische opsartytische Literatur rechnen, (15) betonen die englischen Übersetzer und Kommentatoren Wilkins und Hill seine doppelte Funktion: Zum einen und in erster Linie geht es um die richtige Zubereitung von Speisen, ist das Werk also ein Kochbuch, in zweiter Linie muß man es als Unterhaltungsliteratur ansehen, die ihren Platz in dem nach griechischer Sitte dem Deipnon folgenden Symposion hatte. (16) Dieser Zwischenstellung zwischen Lehr- und Unterhaltungsliteratur entspricht die Ambivalenz seiner Einordnung als Parodie. Denn einerseits verweisen Inhalt und metrische Form (Hexameter) auf ein Lehrgedicht, andererseits erweist es sich in seiner Intention - zumindest partiell - gerade auch durch die Wahl des Hexameters, des für Epos und Lehrgedicht klassischen Versmaßes, als Parodie. (17)

Archestratos nimmt insofern die Rolle des Bocuse einer griechischen 'nouvelle cuisine' ein, als er den herkömmlichen aufwendigen Würzungen eine einfache auf den Eigengeschmack des jeweiligen Fisches oder anderer Speise abzielende Würzung entgegensetzte. (18) Darüber, ob die Einfachheit sich, wie in der modernen nouvelle cuisine, auch auf die Quantität erstreckte, sind wir aufgrund des Fehlens von Fundmaterialien nicht informiert, vermuten es aber angesichts der Sprichwörtlichkeit von Siziliens üppiger Küche nicht.

Im parodistischen Charakter von Archestratos' Werk erkannte man mit Recht einen Bezug zur frühgriechischen Lyrik, wie Semonides, Hipponax und Anianos, (19) und zur Alten Komödie. (20) Ebenso wurde auf eine mögliche Hesiod- und Homerparodie hingewiesen. (21) Auch wenn bei aller Sicherheit über den Charakter einer Parodie weiterhin unklar ist, welches Literaturgenos, ja ob überhaupt ein ganz bestimmtes parodiert werden soll - Epos, tragische Dichtung, Lehrdichtung, opsartytische Literatur -, macht doch allein die Tatsache, daß es sich bei diesem Werk - zumindest auch - um Parodie handelt, die Bedeutung der Intertextualität klar. Denn wo wäre die vom Rezipienten vollzogene Erkenntnis der Bezugnahme auf andere Literatur wichtiger als im Bereich der Parodie, in dem diese Erkenntnis allein Genuß verbürgt? Dabei besteht der Genuß aber gerade darin, zugleich mit der Übereinstimmung in einem bestimmten Aspekt die Abweichung in einem anderen zu bemerken. So erkannte etwa der Rezipient den Hexameter als Versmaß der epischen und der didaktischen Dichtung wieder, vermerkte aber sogleich den Unterschied im Inhalt. Zu diesem gehörte ein Punkt, der bisher nicht genügend Beachtung fand: Es geht um die Verwendung des Fisches, die bei Archestratos ganz im Vordergrund steht, wohingegen das Nahrungsmittel Fleisch bei ihm keine sehr große Rolle spielt. Diese Ausrichtung auf Fischgerichte wurde zwar in der Forschung bemerkt, aber die hierfür bemühte Erklärung vermag meines Erachtens nicht zu befriedigen. Denn als Begründung für Archestratos' fischige Vorliebe, der spätere Gastronomieliteraten folgten, wurde geltend gemacht, der Genuß von Fleisch sei für die Griechen in der Regel mit Opfer verbunden gewesen und habe deshalb für den Tafelluxus keine so große Rolle gespielt. (22) Darüber hinaus wird gerne darauf hingewiesen, daß Fisch eine Delikatesse war, so daß sein Genuß geradezu als Statussymbol einer betuchteren Gesellschaftsschicht habe gelten können und es somit chic gewesen sei, Gerichte auf dieser Basis zu entwerfen. (23) Diese Argumentation wird aber, wie ich meine, allein dadurch widerlegt, daß bei Homer die Helden vorwiegend Fleisch essen, nicht aber Fisch, man müßte also erst einmal erklären, warum sich diese Gewohnheit in klassischer Zeit geändert haben sollte. Nein, viel einleuchtender ist da doch eine naheliegende, aber bisher noch nicht entdeckte Erklärung: Die Verwendung des Fisches als Hauptgrundlage statt des homerischen Fleisches stellt eine bewußte Abwendung vom 'Vater des Epos' dar: Fisch statt Fleisch ist das Ergebnis der gastronomieliterarischen Anwendung des aemulatio-Prinzips. Nicht auszuschließen ist dabei, daß dieser speziellen Ausrichtung die Erkenntnis des förderlichen Einflusses des Fischfleisches auf die geistige Effizienz, die heutzutage mit der besonderen Wirkung des Fischeiweißes auf die Gehirntätigkeit erklärt wird, zugrundelag. Hiermit könnte Archestratos eine entscheidende Rolle bei der "Entdeckung des griechischen Geistes" (24) zugeschrieben werden, was Athenaios' Bemerkung, alle Gourmets hätten Archestratos' Werk als ihre Theogonie bezeichnet, (25) in einem neuen und anderen Lichte erscheinen läßt.

Hinzu kommt, daß eine Raffinesse von Archestratos' Werk darin besteht, die Herkunftsorte der jeweils besten Zutaten zu beschreiben, so daß sein Werk eine Art imaginierter gastronomischer Reise darstellt. (26) Dies legt die bereits von Athenaios ausgesprochene Vermutung (27) nahe, Archestratos habe sich gleichzeitig in die Tradition der Perihegesisliteratur stellen wollen. Wenn man diese Erkenntnis zu dem bereits Ausgeführten heranzieht, wird erkennbar, wie in die Verdichtung von intertextuellen Bezügen eine multikulturelle Note verwoben wird. Archestratos' Gedicht stellt dann nicht nur durch den Zusammenklang von verfeinerter Geschmackskultur und verfeinerter Ästhetik der Darstellung einen "Vorläufer der hellenistischen gelehrten und lehrenden Dichtung" dar, (28) sondern auch einen Vorgriff auf die multikulturelle Ausrichtung des Alexanderreiches und den Hellenismus im allgemeinen.

Das Besondere an Archestratos ist dabei die Subtilität seiner Bezüge, die sein Werk zwischen Ernst und Parodie changieren läßt, anders als das Attische Mahl des etwa zeitgleichen Matron von Pitane, dessen erster Vers: δεῖπνά μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροφα καὶ μάλα πολλά mit gewollt witziger Parodierung des Iliasbeginnes die Deipnonliteratur auf den Arm nimmt. Die Feinheit von Archestratos' Geschmack dürfte es auch gewesen sein, die im dritten vorchristlichen Jahrhundert den aus Süditalien stammenden lateinischen Dichter Ennius zu einer Adaptation des "Lebens in Luxus" bewegte, die den Namen "Hedyphagetica=Tafelfreuden" trug. (29) Freilich hat auch die These, die Übernahme dieses griechischen Stoffes im römischen Bereich sei der zu Ennius' Zeit bereits auf eine ehrwürdige Tradition zurückblickenden sizilianischen Bewegung der Mafia zu verdanken, einiges für sich. Sie wird von sprachwissenschaftlicher Seite unterstützt. Denn der Begriff Mafia entstand bekanntlich durch Einschub eines Digamma in das Wort μαῖα, (30) das dorisch auch Großmutter bedeutet, (31) so daß Mafia in unserem gastronomischen Kontext nichts anderes als "auf Großmutterart" bezeichnet.

Die griechische Kochkunst gelangte also von Sizilien nach Süditalien und somit nach Rom. Dadurch ist auch von sprachlicher Seite die Erkenntnis gestützt, "daß die Römer der Kaiserzeit nicht nur einen Teil ihrer Kunst, sondern auch einen guten Teil ihrer Küche den besiegten Griechen zu verdanken hatten." (32)

Und auch in der römischen Kochbuchliteratur sehen wir, um als Abschluß unserer Pilotstudie diesen Ausblick zu gewähren, Beweise der Intertextualität. Denn daß in dem bekanntesten Zeugnis römischer, ja antiker Kochkunst, dem in der uns heute vorliegenden Fassung aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. stammenden Kochbuch des Apicius, keine Mengenangaben verwendet wurden, führte in der Forschung bisher zu drei möglichen Rückschlüssen auf den Rezipientenkreis: Apicius' Kochbuch wollte als Zielpublikum erfahrene Köche ansprechen, (33) oder aber das über die schriftliche Niederlegung hinaus notwendige Wissen wurde, wie bei den Ärzten, durch mündliche Tradition, etwa innerhalb der Familie oder der Gilde, weitergegeben. Die dritte These, Apicius habe, in platonischer Tradition, die Priorität der mündlichen vor der schriftlichen Lehre vertreten und deswegen entscheidende Angaben seiner Lehre nur auf mündlichem Weg vermittelt, (34) scheidet aus. Denn ungeachtet der zugunsten der Esoterikthese angeführten Tatsache, daß das Kochbuch des Apicius wohl ganz auf bildliche Darstellungen (35) und damit, jedenfalls vordergründig, auf die Ansprache eines breiteren Publikums (36) verzichtete, waren seine Rezepte offensichtlich so bekannt, daß der Name Apicius als Sinnbild der Schlemmerei galt, (37) so daß eine rein esoterische Vermittlung auszuschließen ist.

Alle drei Gründe erscheinen als unzutreffend, vielmehr ist das Schweigen des Apicius bzw. des Redaktors des Kochbuchs über die genauen Mengenangaben auf dem Hintergrund der auf die homerische Autorität zurückgehenden opsartytischen Verschweigetechnik zu sehen. Das Kochbuch des Apicius verzichtete auf eine Angabe der Mengen nicht deshalb, weil es sich an bereits erfahrene Köche richtete, sondern weil es römische Literaturkenner ansprechen wollte, die genau dieses Schweigen als homerische Reminiszenz erkannten und goutierten.

Die von Archestratos vorgezeichnete, in der Absetzung vom homerischen Fleischessen bestehende Fischaemulatio gelangte in der ausgedehnten Verwendung des "garum", einer aus vergorenem Fisch bestehenden würzigen Sauce, im römischen Kochbuch zu ihrem Höhepunkt, wohingegen die Aufnahme homerischer Verschweigetechnik besonders für die unbekannten Quantitäten der Zusammensetzung des berühmten Honigweines "mulsum", mit dem die Römer ihre "cena" eröffneten, (38) von Bedeutung war. Dieses literarische silentium trägt die Schuld daran, daß nur wenigen heutzutage, nämlich solchen, die durch fleißiges try-and-error-Verfahren die korrekte Zusammensetzung austesteten, ein so langes Leben vergönnt ist wie dem Römer Pollio Romilius. Denn als dieser einst von Augustus gefragt wurde, wie es ihm gelungen sei, 100 Jahre alt zu werden, antwortete er: "intus mulso, foris oleo (durch mulsum für das Innere und Öl für das Äußere)". (39)

Dieser kulinarische Hinweis sei dem Jubilar als donum natalicium gegeben, auf daß es ihm gelingen möge, noch (mindestens) weitere 40 Jahre in froher Gesundheit zu verbringen - mit Fisch oder Fleisch!

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