JÜRGEN BLÄNSDORF  
DEFRAG<m...>

Zu den von keiner der beiden Disziplinen bestrittenen Gemeinsamkeiten der Klassischen Archäologen und Philologen gehört die Vorliebe für Fragmente, die kostbaren Bruchstücke einstiger Gedanken und Werke. Wenn schon der Laie sich mehr von halbunverständlichen Fetzen heraklitischer Philosophie oder sapphischer Poesie angezogen fühlt als von langatmig-vollständigen Abhandlungen des Aristoteles oder Tragödien des Euripides und beim Athen-Besuch dem leider so vollständig erhaltenen Theseion weitaus geringere Aufmerksamkeit widmet als dem Parthenon, dem ja erst die beherzte Tat eines norddeutschen Fürsten, auf dessen kunsthistorische Weitsicht meine Vaterstadt Braunschweig mit Recht stolz ist, den rechten Ruinen-Touch verlieh, so darf vollends der Fachmann sich von fragmentarischen Gebilden jeder Herkunft zur geistesabenteuerlichen Rekonstruktion herausgefordert fühlen. Wie herrlich läßt sich hier im Unwiderleglichen schweifen, argumentieren und polemisieren!

Rohe Gemüter versteigen sich wohl zu realen Defragmentierungen - neudeutsch Defrags. Anfänger wagen sich erst einmal an das Ergänzen von Nasen - obwohl auch hier schon politische Implikationen ins Spiel kommen können. So hat ein bedeutender Altertumskundler in schwerer Zeit aus der Nasenwurzel des Poseidonios-Kopfes den weiteren Verlauf des Riechorgans als arisch-geradlinig extrapoliert, um unter dessen Schutz von der Nazi-Zensur ungefährdet über diesen Philosophen verdächtig semitischer Heimat forschen und publizieren zu können. Doch schon größere Ergänzungen seitens archäologischer Laien können, wie das Beispiel des Laokoon-Armes zeigt, noch sehr posthume Blamagen einbringen. Kaum weniger kühn, aber ungefährlicher ist die papierene Defragmentierungskunst des Wissenschaftlers. Bewundernswert ist die Kombinationsgabe Ihres Kollegen - von Kakanien gen Abend ist sein Heimatland gelegen -, der aus den Standspuren der Statuen des Parthenon-Ostgiebels nicht etwa erschloß, was auch ein Laie vermochte, daß das dort einst gezeigte göttliche Wesen Plattfüße gehabt haben muß - die Standspuren sind darin unwiderleglich -, daß es 1,80 m groß war, weil es sich sicher nicht unter dem Schrägdach bücken mußte, und daß es mit erhabener Miene sich seiner Abkunft von einem nordgriechischen Hochgebirgsvolk würdig erwies - nein, er folgerte aus den Fußspuren messerscharf, wes Geschlecht, wie gewandet, gewendet und gewaffnet die Statue war. Oder jener aquatische Kollege, der mit überwältigendem Scharfsinn aus einer Warze auf Kinderhand die Konzeption eines kaiserlichen Prunksaales zaubert, oder jener, der neulich aus der Einlaßspur eines Krückstockes die demokratische Gesinnung des Gorgias erschloß (1), oder all die, denen zwei Bronzebuchstaben für eine fußballplatzgroße Sonnenuhr, ein Kreissegment für ein Theater, zwei Pfosten für ein römisches Militärlager oder eine Keramikscherbe für einen transeuropäischen Handelszug genügen. Originell finde ich die Musikarchäologen, die die lückenanzeigenden Punkte einer Musikpapyrusedition als Trommelschläge interpretierten. (2) Ich wundere mich, daß der hochverdiente Betreuer der jüngsten musikarchäologischen Dissertation die fehlende Katalogisierung dieser Defrag-Leistung nicht moniert hat.

Doch genau so phantasievoll stürzen sich Philologen auf Textlücken - und wehe, wenn ein Neufund auftaucht. Als Menanders Samia noch unvollständig war, erschloß ein rheinischer Philologiejünger, daß um der poetischen Gerechtigkeit willen nach den strengen Gesetzen dramatischer Kunst noch 8 Szenen zu ergänzen wären, bis nach den tragikomischen Zerwürfnissen alle Welt sich wieder versöhnt hätte. Dann tauchte aus einem koptischen Kloster der Papyrus Bodmer auf und offenbarte: Menander hatte die Komödie mit dem Geniestreich einer einzigen Szene zum Abschluß gebracht. Ganz komplett ist sie freilich noch immer nicht und hat deshalb weiterhin zu Rekonstruktionen verlockt: J. Michael Walton (Warwick) wurde eingeladen, das Stück zu übersetzen, zu ergänzen und in Malibu zu inszenieren. Defragmentierer unserer beiden Disziplinen könnten neidisch werden auf diese Sternstunde ihrer Liebhaberei: in der rekonstruierten Villa dei Papiri - im Original die Quelle der schwierigsten Papyrusfragmente überhaupt - eine defragmentierte Komödie aufzuführen! (3)

Man kann aber vorsichtshalber den umgekehrten Weg einschlagen und das Fragment für das Ganze erklären: die Komposition von Lucans Pharsalia laufe auf nicht mehr als das überlieferte Ende hinaus, Rutilius Namatianus habe wegen der Verwüstung Galliens seine Reise einst nie weiter als bis Portus Lunae schreiben mögen oder können. "Philologen als Teleologen" spottete einst W. H. Friedrich über solche Interpretations-Kunststücke. (4) Zu Rutilius fand sich inzwischen doch die Fortsetzung, ein Fragment des 2. Buches! Doch unverdrossen an die Arbeit mit neuen Defrag-Versuchen! Noch sind zwar ganze Werke Ciceros unkommentiert, aber mit den Konjekturalbeiträgen zu den 9 noch dazu unvollständigen Versen des rätselhaften Cornelius Gallus könnte man 20 Jahre nach dem Fund des Papyrus von Qaşr Ibrîm schon einen Folioband füllen. (5)

An Plautus wenigstens haben sich schon immer die Geister versucht, um Überlieferungslücken kongenial zu stopfen. Noch jüngst hat jemand sich erdreistet, aus originalen und mühsam zusammengebastelten Versen die Überlieferungsschäden im Amphitruo zu reparieren, und noch dazu auf Latein. Aber solche Defragmentierung wird zum Nullsummenspiel, wenn ein anderer Kollege vorschlägt, alles für einen rational denkenden Menschen in einer Komödie Entbehrliche - und was ist nicht alles in einer Komödie entbehrlich, fast ja sie selbst! - herauszuwerfen, in der festen Überzeugung, damit aus dem Wust späterer Interpolationen den originalen Plautus zurückzugewinnen - ein im Rahmen einer noch zu schaffenden Defrag-Theorie höchst bemerkenswerter Versuch der Rekonstruktion durch Fragmentierung. Um dem zu feiernden Archäologen dieses Verfahren der Beseitigung alles Wiederholten und also Überflüssigen deutlich zu machen: in der Laokoon-Gruppe wären ein Sohn und eine Schlange inhaltlich vollständig genug, der zweite Sohn, die zweite Schlange müßten zweifellos die Zutat eines ungeschickten Interpolators sein, der ohne Verständnis für künstlerische Ökonomie das Pathetische als Effekt suchte.

Doch wer sich über den wissenschaftlichen Wagemut der Kollegen mokiert, ist es sich schuldig, auch die eigene Haut zu Markte zu tragen. Darum sei Ihnen, lieber Herr Kollege, die völlig neue Defragmentierung einer Komödie des Plautus als Festgabe dargebracht. Neu und äußerst wagemutig deshalb, weil sich noch nicht einmal die rekonstruktionsfreudigsten Plautiner an diesem Fragment, das nur aus dem Komödientitel Commorientes und vier Wörtern besteht, versucht haben, (6) obwohl die ehernen Gesetze der griechischen Komödie und die blechernen Gesetze plautinischer Umformung auf eine geschlossene Konzeption - und eine reizvolle Variation des dramatischen Grundmusters! - führen. Künftige Literaturgeschichten werden an dem ebenso erregenden wie rührenden Kunstwerk nicht mehr so achtlos vorbeigehen dürfen wie der Verfasser des Plautus-Artikels in dem vor dem Abschluß stehenden Band I des Handbuchs der Lateinischen Literaturgeschichte.

Grundüberzeugung jedes Defragmentierers - sei er Archäologe oder Philologe - ist es, daß ein gütiges Schicksal ihm eine Schlüsselstelle geschenkt hat, in deren Flächen, Ecken und Bruchlinien gewissermaßen holographisch das ganze Werk gespeichert ist. Es braucht bloß die richtige Beleuchtung - und aus jeder Knitterfalte steigt das Ganze wieder ans Licht. Zweites Prinzip: die Rekonstruktion muß den Gesetzen der Gattung und der Eigenart des Schöpfers folgen und darf möglichst nur die bekannten Schemata repetieren. Denn ein Defragmentierer kann nur ein ruhiges Gewissen haben, wenn er annimmt, daß in dem vorliegenden Werk der Schöpfer auf der Stelle getreten hat! Schauen wir also, was Menandern, Diphilos und Genossen und ihren römischen Nachtretern lieb und unentbehrlich war, wenn sie ihr Publikum vor über 2300 Jährchen zu erfreuen gedachten: erstens als Auslöser der wirren Fülle von Leidenschaften, Konflikten und Irrtümern hübsche Damen aus Welt und Halbwelt, in sie verliebt ein bis zwei Nachwuchsathener - aus chronischem Geldmangel zu jeder Schandtat gegen den lieben Vater bereit, aber aus eigener Einfallslosigkeit unfähig dazu. Sodann ihre Väter, die durch Geist- und Einsichtslosigkeit glänzen, ihre Sklaven als Postillions d'amour und Helfer in Herzens- und Geldnöten, und als Komplettierung der Riege der Widersacher der ebenso reiche wie dumme Offizier und der ebenso habgierige wie böse und natürlich ebenfalls dumme Kuppler, kurzum die personifizierte Dekadenz - schon ein Dreivierteljahrtausend vor dem Untergang der Antike. Und warum brach diese nicht schon im Hellenismus zusammen? Weil natürlich jede Komödie doch in einer Wiederherstellung der zerbrochenen bürgerlichen Ordnung, Wiedererkennung entführter Bürgerbabies und allgemeiner Versöhnung enden mußte: man sieht, daß das Streben nach Wiederherstellung sich auch schon innerliterarisch bemerkbar machte. Philologische Defragmentierung braucht also nur der literarischen zu folgen, und schon gewinnen wir unsterbliche Meisterwerke zurück.

Die Commorientes also, von Plautus schamlos aus Diphilus' zum Glück ebenfalls verlorenen Συναποθνήσκοντες abgekupfert, müssen laut Titel ein Stück gewesen sein, in dem zwei Menschen zusammen starben - oder sterben wollten, denn am Schluß mußte sich ja doch alles zum Guten wenden. Der eine war natürlich ein unglücklich Verliebter, der andere nicht, denn solche Motivdoppelung wäre unschicklich für einen stets ökonomisch arbeitenden attischen Dichter, und zudem wäre es für die Nea ungewöhnlich, daß eine unglücklich verliebte junge Dame mit ihrem Freund sterben wollte. Also bleibt als zweiter Todeskandidat nur sein Sklave, dem sämtliche Versuche, an das Geld des Vaters zu kommen, um die Halbweltdame vom Kuppler freizukaufen, fehlgeschlagen waren. Denn der hatte den Preis hochgetrieben, seitdem ein reicher Soldat als Kaufinteressent aufgetreten war. Intensive Interpretation des Titels liefert uns also unwiderleglich schon 6 dramatis personae.

Das Spiel kann beginnen - und muß natürlich dem höchst traurigen Beginn zum Trotz glücklich enden. Dem erfahrenen Defragmentierer reicht dazu ein halbes Verslein, das ihn mit einem Sprung mitten in die hochdramatische Handlung versetzt. Das kostbare Fragment lautet:

Saliam in puteum praecipes.
"Ich möcht' kopfüber in den Brunnen springen".

Das Überlieferungsglück hat uns also genau einen der beiden Todbereiten des Titels beschert, den liebeskranken Jungathener. Aber diese dramatische Wende kann natürlich nicht schon im I. Akt erfolgen. Erst einmal mußte sich seine Liebesaffäre als ausweglos erweisen. Was nun geschehen muß, ist so logisch klar, daß wir das Drama sogleich nach den für die Nea kanonischen 5 Akten gliedern können, obwohl Plautus natürlich die Aktgliederung verwischt hat, damit ihm während des langweiligen Musikintermezzos das Publikum nicht zu einem Boxkampf entlief. Die dramaturgische Logik liefert uns also beides: die Handlung des griechischen Originals ebenso wie die plumpen Eingriffe des römischen Bearbeiters!

I. Akt: Erotiphilus (seien wir in der Wahl der pseudo-attischen Namen ruhig genau so unbedenklich wie Plautus) kommt aus seinem Hause (rechte Bühnenseite), um sein Liebesleid zu klagen und zum letzten Male seine Geliebte, die Hetäre Pancharis, zur gemeinsamen Flucht vor Heurechrematos, dem bösen Kuppler, zu überreden. Plautus hat am Anfang eine Szene ausgelassen, in der der leidenschaftlich in Liebe Erglühte dem Kuppler die Hetäre entriß, eine schöne Szene, aber wohin hätte dieser Streich denn auch führen sollen, denn finanzieren konnte der Junge den Lebensunterhalt der kapriziösen Dame ja doch nicht! "Ein Fragment - ein Fragment!" muß sich Terenz gesagt haben, das er gut gebrauchen konnte, um seine allzu ernsten Adelphoe damit aufzuputzen. Aber die immer hellwache Konkurrenz hatte es gemerkt, und der arme Berber mußte sich im Prolog seines Stückes schamrot wegen des Plagiats verteidigen. (7) - Von Erotiphilos' Klagen geweckt kommt die Schöne (man könnte sich denken, daß sie begleitet von einer kaum weniger charmanten Dienerin oder einem alten Hausdrachen als Bewacherin auftritt) aus dem Haus des Kupplers (Bühnenmitte, mit Altar der Venus), um ihn ihrer unendlichen Liebe zu versichern - falls er die fällige Rate für ihren aufwendigen Haushalt zahle. Ansonsten gebe der Kuppler dem militärischen Dienstrang den Vorrang. Der enttäuschte Liebhaber ruft mit erneuter Klage seinen Sklaven Syrus herbei und gibt ihm den Auftrag, irgend jemanden, notfalls den eigenen Vater, um die nötigen Minen oder Talente zu betrügen, und geht einfallslos, jedoch hoffnungsvoll ab. Der brave alte Haussklave hat das freilich schon alles erfolglos versucht. Als der Kuppler kommt, holt er sich mit bloßen Bitten eine erbärmliche Abfuhr, und macht sich auf, seinem Herrn die Katastrophe mitzuteilen.

II. Akt: Bei Diphilos kam nun zufällig ein Chor hübscher Hetären herbei und sang ein Lied von Glück und Unglück in der Liebe. Plautus hat das für Rom sittenwidrige Treiben und damit die Aktfuge gestrichen. Daher die folgenden Akt-Zahlen in Klammern, wie es bei braven Plautus-Editoren und -kommentatoren alter Brauch ist. Plautus hat, damit die Musik nicht fehlt, statt des Chores erst den verzweifelten Syrus, dann den noch verzweifelteren Erotiphilus ein Canticum in möglichst nicht analysierbaren Versen - das Mindeste sind akephale Reiziane - singen lassen. Schließlich springt Erotiphilus in den Brunnen (linke Bühnenseite, auch Menander hat seinen dyskolischen Knemon in einen auf der Bühne befindlichen Brunnen plumpsen lassen), sein darob doppelt verzweifelter Sklave nach einem Canticum über die Pflichten eines braven Sklaven hinterher (die Doppelung des Klagethemas ist natürlich typisch plautinisch).

<III.> Akt: Bei Diphilos kam wieder zufällig ein Chor des Weges - diesmal wären tändelnde Landmädchen angemessen - und zog die beiden verzweifelt rufenden Unglücksmenschen aus dem Brunnen. Plautus wiederum hat nach seiner Gewohnheit das operettenhafte Getue gestrichen und durch einen dramatisch sonst überflüssigen Brummbär von Landsklaven ersetzt, der über das Häufchen Elend, das er aus dem Brunnen fischt, erbarmungslos seine Witze reißt. Im <III.> Akt also diskutieren Erotiphilus und Syrus, naß und dreckig, wie sie sind, ihre Brunnenerlebnisse: mit allen Vieren im Schlamm landend bekam Syrus einen goldenen Ring zu fassen, den er nun stolz vorführt. Als er schon eine Freudenarie anstimmt, weil er sich mit dem Verlauf des Ringes freizukaufen hofft (8) , erkennt Erotiphilus, daß der Ring einst ihm gehörte und er ihn bei einem erotischen Abenteuer, an das er sich nur noch schwach erinnert, verloren hat. Mit der Vorfreude, daß wie üblich nox amor vinum adulescentia (Terenz, Adelphen 470) Folgen gehabt haben, entließ Diphilos den Zuschauer in die Aktpause, während Plautus sogleich mit dem <IV.> Akt fortfuhr. Denn obbenannter Brummbär hat den Brunnenbesitzer, den Bauern Dysclio (sein Haus ist natürlich außerhalb der Bühne), über die mißbräuchliche Benutzung seines Eigentums informiert, so daß dieser wutentbrannt auftritt, um von den Brunnenspringern Schadenersatz zu verlangen. Soeben gerettet und wegen erneuter Geldklemme schon wieder todunglücklich, ziehen die beiden ab - ein erneuter Brunnensprung wäre als billiger Interpolatoreneinfall zu tilgen. Besser also, sie auf der Suche nach einem Rechtsbeistand nach links in die Stadt abgehen zu lassen (in Athen wäre es die rechte Seite - Plautus muß hier durch kühnen Seitenwechsel das Lokalkolorit romanisiert haben!).

Kein römischer Dramatiker, der sich auf das Verschlimmbessern griechischer Vorlagen versteht, würde die so schön aufgebaute Spannung durch ein läppisches Chorlied retardieren. Der barsche Dysclio kommt am Anfang des <V.> Aktes als gebrochener Mann zurück. Denn soeben hat er zu Hause erfahren, daß seine Tochter (die wichtigste Person erscheint aus Gründen der bürgerlichen Sittlichkeit und wegen ihres aktuellen Zustandes nicht auf der Bühne, braucht also auch keinen Namen) eines gesunden Knäbleins genesen ist. Als typischer senex der Komödie hat er natürlich bisher gar nichts gemerkt. Nun sitzt er mit einem Klagelied auf den Lippen auf dem Mittelpunkt der Commorientes, dem Brunnenrand, doch bevor er sich mit einem Selbstmordplan mittels drittem Brunnensturz einer kunstwidrigen Motivwiederholung schuldig machen kann, kehren Erotiphilus, Syrus und 2-3 wegen ihrer Rechtsbeistandspflicht höchst unwillige Freunde zurück, um den Brunnenmißbrauch kleinzureden. Als Erotiphilus zu einer pathetischen Suada ansetzen will und ausholend gestikuliert, bemerkt Dysclio den Ring an seinem Finger, der ihm merkwürdig bekannt vorkommt: bis vor kurzem hat ihn seine Tochter getragen, dann muß sie ihn aus einem unbegreiflichen Grunde in den Brunnen geworfen haben. Hier ist auch ein Indiz für die Datierung der plautinischen Bearbeitung: sie muß vor 195 v. Chr. liegen, weil es nach der Aufhebung der lex Oppia unglaubwürdig gewesen wäre, daß eine Frau Gold wegwirft. Jetzt dämmert es - natürlich nicht Erotiphilus, denn in der Komödie sind attische Bürger jeden Alters begriffsstutzig, sondern Syrus, warum sein Herr vor 9 Monaten vom Bacchusfest so merkwürdig derangiert nach Hause kam und ihn tags darauf das ganze Haus, die Straße und den Park (Entschuldigung: den Hain) absuchen ließ: Dysclios Tochter, die sich etwas von der Festprozession entfernt hatte, war im Dunklen sein Opfer geworden. Kurz vor ihrer Niederkunft muß sie vor Wut, daß der werdende Vater sich nicht meldete, den Ring in den Brunnen geschleudert haben. Natürlich muß jetzt Erotiphilus sofort die Ehe versprechen, der Schwiegervater ist etwas getröstet, reduziert aber bauernschlau die geplante Mitgift, da der junge Mann ja keine Jungfrau heimführt. Diesen schlimmen Bauerntrick hat ihm natürlich Plautus aufgehängt, während der Original-Vater wie alle alten Herren der Neuen Komödie nach Meinung der besten Kenner sicher ein Ausbund an Tugend war, so daß die ungeschmälerte Wiedererkennungs- und Versöhnungsfreude herrschte.

Sie sehen, lieber Herr Fleischer, daß auch die Philologen aus einem Fragmentkrümel ein ganzes Kunstwerk wiedererstehen lassen können. Daß es so offenbar nach Menanders Epitrepontes und nach Plautus' Pseudolus, Ruden, Truculentus u.a. riecht (9), hat es mit unzähligen anderen kühnen Rekonstruktionsversuchen hochverdienter deutscher Philologen gemein und ist darum so überzeugend, daß wir auf jeden weiteren Fragmentfund verzichten können - käme er dennoch, er riskierte, unverzüglich für unecht erklärt zu werden.

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