DAGMAR AVERSANO-SCHREIBER  
  Türkei-Impressionen  
 

Die Hellenismus-Vorlesungen unseres geschätzten Professors Robert Fleischer hatten meine Studienkollegin Patricia Winheim und mich neugierig gemacht auf das Land, das wir bisher nur von Dias kannten. Vor einigen Jahren war es dann soweit. Wir starteten eine mehrwöchige private Türkeiexkursion, die alle wichtigen Stätten von Aphrodisias bis Xanthos einschloß. An einen Ort kann ich mich besonders gut erinnern.

Für diesen Tag hatten wir uns Labraunda vorgenommen, eine antike Stadt in den Bergen, nicht weit entfernt von Mylasa. In unserem Fiat, den wir gleich zu Beginn der Reise gemietet hatten, fuhren wir los. Am Fuße des Berges stand am Wegesrand ein gepflegt wirkender, junger Mann. Er gab uns Zeichen anzuhalten. Nachdem wir seinem Wunsch entsprochen hatten, öffnete er die hintere Wagentür und setzte sich auf den Rücksitz. Die Tür ließ er offen. Er reichte uns wortlos einen Zettel, auf dem etwas in Türkisch geschrieben stand. Interessiert betrachteten wir das Schriftstück, allerdings blieb uns die Mitteilung verborgen, da wir immer noch keine Zeit gefunden hatten, am Kurs Türkisch I an der Universität Mainz teilzunehmen. Mit einem Achselzucken reichte ich ihm den Zettel zurück. Da der Anhalter keinerlei Anstalten machte auszusteigen und sich in geheimnisvolles Schweigen hüllte, fanden wir uns mit der neuen Situation ab. W ir hatten schließlich noch viel vor. Wir fuhren los, und die Hintertür wurde geschlossen. Im Verlauf der Fahrt wurde uns klar, daß die mangelnde Kommunikationsbereitschaft auf Fragen wie: "What's your name?" und "Where do you come from?" etc. nicht auf Verstocktheit, sondern Stummheit zurückzuführen war. Wir nahmen an, er wolle in eines der Bergdörfer, die auf unserem Weg lagen. Weit gefehlt! Wir fuhren durch mehrere dieser Dörfer hindurch, unser Begleiter blieb reglos.

Mittlerweile hatten sich die Straßenverhältnisse verändert. Dort oben gab es nur noch Wald und eine staubige, nicht sehr breite Schotterpiste. Für sich genommen stellte das kein Problem dar. Allerdings donnerten ständig Lastwagen, die wohl aus einem nahe gelegenen Steinbruch kamen, die Straße hoch und runter. Der Weg war sehr kurvenreich und unübersichtlich. Aus diesem Grund hatten die LKWs Funk, wir nicht. Die Tatsache, daß wir nie wußten, ob wir hinter der nächsten Kurve am Kühler eines dieser dröhnenden Ungeheuer kleben würden oder nicht, machte die Sache irgendwie spannend. Aber wir kamen wohlbehalten am Ziel an. Wir parkten das Auto und stiegen aus. Wenn Sie bis jetzt gut aufgepaßt haben, wissen Sie: Wir waren immer noch zu dritt. Nachdem wir einen Stier von den Ruinen vertrieben hatten, machten wir uns an die Besichtigung. Dabei gelangten wir auch zum Andron A. Das Gelände stand knietief unter Was ser. Wir wollten uns aber das Gebäude etwas näher ansehen. Um in das Innere zu gelangen, mußte man über vier Steine hopsen, die inselartig aus dem Wasser ragten.

Vorneweg Patricia, in der Mitte unser Anhalter, zum Schluß ich. Über meiner rechten Schulter hing eine nagelneue Nikon-Kamera, unter der linken Achsel befanden sich einige Pappordner mit Exkursions-Unterlagen. Man hört im Leben irgendwann auf, sich gewisse Fragen zu stellen, z. B., warum immer ich alle Unterlagen tragen mußte.

Und ich trug noch etwas, nämlich rutschige Schuhe. Die beiden anderen befanden sich bereits auf sicherem Gelände, und vor mir lag nur noch ein Stein, den es zu überwinden galt. Da überfiel mich ein unerklärliches Zögern. Mein Unterbewußtsein hatte wohl schon registriert, daß dies keiner von den freundlich gesinnten Steinen war, sondern einer von der Sorte, über die man zu stolpern pflegt. Ich entschied mich dennoch für diesen letzten Schritt. Die Entscheidung erwies sich als falsch. Mein Fuß rutschte weg, und ich fiel - nicht ohne vorher noch, mit dem Knie gegen eine Mauer zu prallen - rückwärts in den Sumpf. Vermutlich mit der Eleganz einer Konservenbüchse, denn ein Abfangen war aufgrund der Dinge, die ich trug, unmöglich. Meine Situation hatte sich schlagartig verändert. Auf Hilfe von Patricia zu hoffen, war völlig sinnlos, die brach nämlich gerade vor Lachen zusammen. Liebliche Seerosen umschwammen mein Haupt, und ich zeigte auffallende Ähnlichkeiten mit Ophelia. Aber nein, ich muß Sie enttäuschen. Ich sah kein helles Licht, mein Leben zog nicht in Bildern an mir vorbei. Ich dachte nur an den Fotoapparat. Er gehörte nämlich meinem Mann, und dieser hatte mir vor der Abreise versichert, ohne den brauchte ich überhaupt nicht mehr nach Hause zu kommen. So waren also meine ersten Worte, die ich sprach: "Rettet den Foto!" Das erfolgte auch prompt. Danach wurde ich von unserem Begleiter herausgezogen. Ich war naß und schlammig, die Unterlagen waren naß und schlammig, das Knie war dick. Egal! Die Besichtigung ging weiter. Es waren aber kaum fünf Minuten vergangen, da hörten wir jemanden rufen. Zwei Mädchen kamen heftig gestikulierend auf uns zu gerannt.

Unabhängig voneinander hatten Patricia und ich denselben Gedanken: Unser Auto ist zu Schrott gefahren worden! Wir liefen zur Straße hin. Der Fiat hatte seine Position nicht verändert. Dafür sahen wir ein Pferdefuhrwerk, dessen Anhänger umgestürzt war. Der geladene Sand bedeckte die gesamte Straße. Zwei Männer standen daneben und betrachteten hilflos das Szenario. An ein Zurückfahren war vorerst nicht zu denken, denn dies war die einzige Straße nach Labraunda und ihr Ende verlief sich - wie man auf der Karte sehen konnte - irgendwo im Niemandsland. Wir begriffen, daß von uns erwartet wurde, zusammen mit den Mädchen im nächsten Dorf Hilfe zu holen. Genau das taten wir. Nun waren wir also schon zu fünft. Der Weg wurde immer bedenklicher, kleine Flüsse kreuzten ihn. Schließlich erreichten wir das Dorf, setzten die Kinder ab und machten uns auf den Rückweg.

Inzwischen war die Straße soweit freigeschaufelt worden, daß wir vorbeifahren konnten. Das Ganze also rückwärts: die staubige Schotterpiste, die LKWs, die Bergdörfer und schließlich die Stadt am Fuße des Berges. Wir hatten Zeit zum Nachdenken. Dabei war Patricia zu dem Schluß gekommen, daß es sich bei dem Zettel um eine Art Spendenaufruf handeln müsse. Wir verständigten uns schriftlich mit dem jungen Mann und erfuhren, daß diese Überlegung richtig war. Er war ein Pilger aus Konya (das hätte er doch gleich sagen können!). Es war durchaus nicht seine Absicht gewesen, uns zu begleiten. Die juristische Bezeichnung für unser Verhalten lautet wohl Entführung. Als wir ihm eine Spende geben wollten, lehnte er ab, bedankte sich aber überschwenglich. Wohl für den netten Ausflug. Damit endete der archäologische Teil dieses Tages. Aber wissen Sie, über Labraunda selbst kann ich Ihnen gar nicht so viel berichten.

Ich will Ihnen auch nicht verschweigen, wie wir unseren letzten Tag in der Türkei verbrachten. Wir saßen beim Frühstück. In wenigen Stunden sollte unser Flugzeug nach Frankfurt starten. Plötzlich erschien im Garten des Hotels ein Welpe mit niedlichen braunen Schlappohren, die beim Rennen auf und ab wippten. Und ihn beim Rennen zu beobachten, hatten wir genug Gelegenheit, er wurde nämlich von zwei grimmig aussehenden Hotelhunden verjagt. Ich hatte gerade noch Zeit, meinen Kaffee auszutrinken, nachdem Patricia den Stuhl mit den Worten zurückgeschoben hatte: "Und der gehört mir!" Ich versuchte erst gar keinen Einwand, weil ich wußte, daß sie sich von einem einmal gefaßten Vorsatz nicht mehr abbringen ließ. Wir gingen in den Garten, sie schnappte sich den Hund, und wir verließen das Hotel. Wir fuhren zum Tierarzt in Side, denn kein Tier darf Deutschland ohne Gesundheitsbescheinigung betreten. Die muß aber eigentlich eine Woche vor Abreise ausgestellt werden. Der Tierarzt war ein Mann, mit dem man reden konnte und der sich durch das Argument eines ordentlichen Trinkgeldes überzeugen ließ, die Bescheinigung vorzudatieren. Nach erfolgter Untersuchung saß der Hund auf meinem Schoß, während der Arzt abwechselnd den Kopf des Hundes und meinen streichelte. Schließlich brachen wir Richtung Antalya auf. Unser neuer Gefährte saß brav auf meinen Knien. Wir hatten ihn gut gefüttert, und das sollte auch schon bald seine Wirkung zeigen. Die Autofahrt, die sicher die erste seines Lebens war, bekam ihm nicht so gut. Seine plötzlich starr werdende Mimik und leicht hervorquellenden Augen kündigten bevorstehendes Unheil an. Kurz darauf beugte er sich vor - und erbrach sich über die Handbremse und mich. Ich war wieder mal total eingesaut, aber daran war ich ja inzwischen gewöhnt. Patricia reagierte nicht so gelassen. Sie kurbelte das Fenster herunter und rief immer wieder, während sie den Kopf aus demselbigen hielt: "Oh Gott, mir wird schlecht!" In dieser Haltung steuerte sie unser Fahrzeug. Ich muß sagen, eine solche Leistung hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Nun war das Lachen an mir. Wir fuhren erst einmal ans Meer, um alles zu reinigen. Sie haben sicher schon erraten, daß das meine Aufgabe war. Aber wir haben Natascha - wie sie später genannt wurde - trotz Zeitdruck und Aufregungen gut nach Deutschland gebracht und bei einer Freundin unterbringen können.

Ich könnte Ihnen noch Vieles erzählen, z. B. von der Fahrt auf der Krepis eines Tumulus in Bin Tepe oder von den Geistern in Arykanda, die man nur in der Dämmerung sehen kann, oder wie man sich Typhus im Asklepieion in Pergamon holen kann, aber davon ein anderes Mal.

 
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