MARIA AURENHAMMER - LIONEL BIER  
Aphrodite im Kontext oder die Schutzgöttin des "Tröpferlbades" (1)

Anlaß für diesen kurzen Artikel ist die Entdeckung eines hochinteressanten Schriftstücks in Privatbesitz (2), das die Autoren durch einen glücklichen Zufall zu Gesicht bekamen und hiermit ausschnittweise dem Kollegenkreis vorstellen wollen. Es handelt sich um eine große Anzahl von aus einem Heft herausgerissenen Blättern (3), versehen mit handschriftlichem, in englischer Sprache verfaßtem Text und zahlreichen Zeichnungen. Der Duktus der Handschrift und die teilweise altertümlichen Ausdrücke legen nahe, daß der Text im 19. Jh. verfaßt wurde. Die mehrere Male im Text auftretende Ortsbezeichnung "Ephesus", die Schilderungen des mühseligen Alltagslebens in orientalischem Ambiente mit haarsträubenden Eselsritten und Banditenüberfällen, vor allem aber die immer wiederkehrenden saloppen und ziemlich herablassenden Anspielungen auf einen Vorgesetzten mit Spitznamen "the turtle" lassen nur den Schluß zu, daß es sich hier um das private Tagebuch eines Mitarbeiters von J. T[urtle] Wood, des Entdeckers des Artemisions von Ephesos (4), handeln muß. Die Durchsicht des kompletten Satzes an Blättern führt zu dem Schluß, daß dieser Mitarbeiter ganz offensichtlich heimlich, ohne Wissen des Grabungsleiters - was damals noch möglich war -, Grabungen im Gelände von Ephesos durchführte, die bis jetzt der Fachwelt verborgen blieben. Aus diesem reichen Schatz an Informationen veröffentlichen wir hier, mit Erlaubnis des Besitzers, ein nur auf der Vorderseite beschriebenes Tagebuchblatt (vgl. Abb. 1), das auf die Existenz eines hellenistischen Aphroditeheiligtums in Ephesos hinweist, ein in seiner Art singuläres Monument. Wegen der schwer zu entziffernden Handschrift folgt hier die Transkription des englischen Textes im Wortlaut:

"28 May. Arriving today at a spot above the ancient harbour of Ephesus, on the lower slopes of Mount Prion, where, for the past weeks, I have been wont to retire of a late spring afternoon to smoke my pipe while pondering the past glories of Greece and Rome far from the maddening din of the workmen, the blowing dust, and the relentless demands of the Turtle, I quite literally stumbled upon the rounded edge of a large ruined monument jutting perilously from the soil. A half hour of vigorous digging, aided by my trusty cane, was all I required to lay bare the base of an antique building of dazzling white marble, which had been heartlessly denuded of all save the wretched stumps of two columns which leaned towards one another, some 7 ft. 1 in. apart. The monument, about 56 ft. 8 in. diameter, was strewn about with quantities of terracotta pipes, a number of curious metal rings, along with the usual building debris, including a doric capital. While temporarily ceasing my labours to relieve the call of nature, I came, perchance, upon some broken stones, bearing an inscription in Grecian letters, while round about it lay various fragments of a nude female statue which included the right hand of the goddess shielding her pudenda. This, alas, was all that remained to evince ..." (hier bricht der Text ab)

Tagebuchblatt
Abb. 1: Tagebuchblatt im Privatbesitz

Die dem Tagebuchblatt beigefügte Lageskizze bezieht sich also auf eine Fundstelle am Nordabhang des größeren der beiden Stadtberge, dem Bülbüldağ - hier Prion genannt - , südlich des Hafenbeckens (5). Nach den Angaben des Blattes läßt sich eine Reihe von folgenden Evidenzen und Fundstücken auflisten (vgl. dazu die Abbildungen im handschriftlichen Text):

  1. Fundamente eines großen Rundbaus, Dm 17,27 m,
  2. darauf 2 Säulenstümpfe, wahrscheinlich in situ, 2,14 m voneinander entfernt,
  3. ein dorisches Kapitell, an der Oberseite 38 in.=0,965 m messend,
  4. zahlreiche Tonröhren,
  5. eine Anzahl eigenartiger Metallringe, 6 in.=0,152 m im Dm,
  6. eine fragmentierte Stele mit griechischer Inschrift,
  7. einige Fragmente einer nackten weiblichen Statue ("der Göttin"), darunter ein Fragment der rechten Hand, die schützend vor der Scham liegt.

Die 17,27 m im Durchmesser messenden Fundamente und die Säulenstümpfe gehören sicher zusammen, wobei der Säulenabstand 2,14 m beträgt. Es ist nun verlockend, diese Fundamente und Säulenreste mit dem dorischen Kapitell (vgl. Skizze in der rechten unteren Ecke des Tagebuchblatts) zu einem kleinen Rundtempel dorischer Ordnung zu verbinden. Dafür sprechen auch, wie wir gleich sehen werden, die Fragmente des in der Nähe gefundenen lebensgroßen Marmortorsos, die der anonyme Entdecker in künstlerischer Unordnung am unteren Rand des Tagebuchblattes gezeichnet hat: es sind nur wenige aussagekräftige, doch ist ein charakteristisches darunter, das die Zuweisung zu einem Statuentypus erlaubt und dadurch sogleich eine Reihe von Assoziationen hervorruft. Es handelt sich dabei um das Fragment einer rechten Hand, das die weibliche Scham bedeckt. Weitere Fragmente von den Extremitäten der Skulptur zeigen, daß diese nicht von einem Gewand umhüllt waren, die Figur war also gänzlich unbekleidet. Das Fragment einer Brust zeigt wiederum, daß die Brüste freilagen und nicht durch den anderen Arm der Statue geschützt wurden. Die offensichtlich herabhängende Linke hielt ein kleines, rund zugeschnittenes Stoffstück, dessen Bedeutung sich erst durch den gesamten Kontext erschließt (dazu weiter unten). Das charakteristische Fragment der rechten Hand, das Brustfragment und der zu rekonstruierende Stand der Figur mit rechtem Standbein (vgl. das kleine Fragment mit den Knien in der Skizze des Finders ganz links unten) lassen den Fachmann jedenfalls sofort an den Aphroditetypus Knidia denken (6) und, in Verbindung mit den zu rekonstruierenden Resten des kleinen Rundtempels, an die bei Plinius und Pseudo-Lukian überlieferte berühmte Aphrodite des Praxiteles in ihrem Schrein oder Tempel in Knidos (7), sowie an die dorische Tholos in der Villa des Hadrian in Tivoli mit einer Nachbildung der Knidia (8). Nachdem Bankels jüngste Forschungen (9) am von I. Love entdeckten Rundbau in Knidos erwiesen haben, daß es sich dabei nicht um das Heiligtum der Aphrodite Euploia in Knidos handeln kann, sondern um einen hellenistischen Rundtempel korinthischer Ordnung mit Cella, der nach epigraphischen und archäologischen Indizien Athena geweiht war, kommt unserem archivalischen Dokument eine besondere Bedeutung zu. Bei diesem neuen ephesischen Rundbau handelt es sich also, wenn wir zuerst die Fundstücke 1-3 und 7 der obigen Liste miteinander verbinden, um einen dorischen Monopteros - nichts weist im Text auf die Reste einer Cella - mit zugehöriger Aphroditestatue vom Typus der Knidia.

Überspringen wir nun die Fundstücke 4-5 in der Liste und wenden wir uns zuvor der fragmentierten Inschriftstele (Nr. 6) zu, die uns Hinweise auf die Interpretation eben jener Funde 4-5 und auf die Datierung der ganzen Anlage gibt. Der Anonymus hat in seinem Tagebuchblatt auf die Wiedergabe dieser Inschrift die größte Sorgfalt verwendet. Der Buchstabenduktus der Inschrift weist eindeutig in hellenistische Zeit (10), was wiederum gut zu der hellenistischen Form des dorischen Kapitells paßt.

Der Finder gibt nur die Abschrift ohne Ergänzungen und Interpretation. Hier der Text mit Ergänzungen:

Ὑδρία χ[ρύσ]εια
Χερνιβεῖον αργύριο[ν
Ἔ]ρωτες αργύριοι
Ἀμφιδέαι χαλκείοι
Προπέ[τασμα τοῦ σ]τακτολουτε[ρίου]

Es handelt sich eindeutig um den Rest eines Tempelinventars, das Votive wie eine goldene Hydria, ein silbernes Waschbecken, silberne Eroten auflistet - Gegenstände, die wir auch von anderen Tempelinventaren der griechischen Welt kennen (11). Singulär ist allerdings der Begriff Προπέ[τασμα τοῦ σ]τακτολουτε[ρίου] (12) - wörtlich "Vorhang des Tropfbades" - ein gelernter Wiener wie der Jubilar erinnert sich sicher noch an das "Tröpferlbad" (13); wir würden heute "Duschvorhang" sagen.

Die Ἀμφιδέαι χαλκείοι könnte man mit "bronzene Armreifen" übersetzen, doch ihre Maße und die Verbindung mit dem davor angeführten Peripetasma legen nahe, in ihnen die Bronzeringe zu sehen (vgl. die Skizze des Finders zwischen den Skulpturenfragmenten und dem Kapitell), mit denen das Peripetasma offensichtlich am Architrav des Rundbaus befestigt war - nachdem für Amphideai auch die Bedeutung von Ringen in Türangeln überliefert ist (14). Die Tonröhren dienten demnach zur Beförderung des im "Tropfbad" nötigen Wassers.

Das uns durch das Tagebuchblatt bekannt gewordene neue ephesische Rundmonument ist also wohl als Tempel-Bad zu interpretieren, die Statue der Göttin im Akt des Badens dargestellt (vgl. Rekonstruktion Abb. 2 a und b). Der Vorhang zwischen den Intercolumnien konnte je nach Belieben auf- und zugezogen werden, das Tropfbad vielleicht zur Illustration des Vorganges "ein- und ausgeschaltet" werden. Die Wiener können also stolz Aphrodite als Ahnherrin und Schutzgöttin des "Tröpferlbades" in Anspruch nehmen! In diesem Ambiente erklärt sich auch das dünne, rund geschnittene Stoffstück in der Linken der Göttin - es kann sich nur um den Vorgänger der Duschhaube handeln, die heute noch von den Damen zum Schutz ihrer Frisur unter der Dusche getragen wird.

Die Göttin ist also stehend und völlig in sich ruhend in der Dusche dargestellt - damit haben wir die erste, bis jetzt bekannte, antike freiplastische Darstellung einer nackten weiblichen Figur in der Dusche vor uns. Es ist zu fragen, ob der freiplastische Typus der kauernden Aphrodite (15), der die Göttin in letztlich doch reichlich unbequemer Haltung im Bad zeigt, nicht doch zeitlich früher als der freistehende Typus der Aphrodite Knidia anzusetzen ist (gemäß der Entwicklung "vom Hockbad zum Duschbad").

Von besonderer lokaler Bedeutung wird unser neu entdecktes Heiligtum aber durch die Verbindung mit dem Dekret einer wohl rhodischen Kaufmannsgilde auf einem Säulenfragment, das im ephesischen Hafenbereich gefunden wurde und auch aus dem 2. Jh. v. Chr. stammt (16). Es nennt einen Schrein (Klision) eines Koinon der Aphrodisiasten. Auch kleinformatige Aphroditestatuetten wurden bei den Grabungen im Hafenbereich gefunden. Was liegt näher, als unser neues Monument mit diesem Klision zu identifizieren!

Wegen des insgesamt hochinteressanten Befundes schlagen die Autoren daher vor, das Terrain am Nordabhang des Bülbüldağ auf der Suche nach dem von dem Anonymus entdeckten Rundmonument zu sondieren, und, bei positivem Ausgang, Nachgrabungen durchzuführen. Für alle Bauforscher, Fachleute des Badewesens und Spezialisten der Kopienkritik eröffnet sich aber schon jetzt ein reiches Feld an Interpretationsmöglichkeiten und Querverbindungen.

Es bleibt uns, unserer besonderen Freude Ausdruck zu geben, dieses Dokument dem Jubilar, einem alten Ephesier und Skulpturenfachmann, widmen zu können - in Erinnerung an zwei als Lehrer und Schülerin gemeinsam verbrachte ephesische Kampagnen (1976 und 1977!).

Ad multos annos und, von einem alten Radrennfahrerkollegen, "allez"!

Rekonstruktion
Abb. 2: Rekonstruktion der Aphroditestatue und des Aphroditeheiligtums in Ephesos (L. Bier)
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