ELMA HEINZEL  

Von Alba Longa ist bekannt, daß die Schätze im Nachlaß des Aeneas zur Verteilung kamen. Im ersteren Fall ergab sich durch Melanippe eine Erneuerung aiolischen Priesteradels, im zweiten Fall blieb troisches Erbe in den Händen des Königshauses. In beiden Fällen gelangten Reichtümer über die Verwendung des Herakles an erneuerte Adelshäuser. Mit dem Einschleusen des Herakles als Ahnherrn wurde eine Verbindung beider Sagenkreise hergestellt, weil er der Pflegemutter des Romulus, Acca Larentina, seiner Geliebten, einen reichen Mann, nämlich Tarutius, verschaffte und ihr damit das Vorrecht über das Erbe des Volkes einräumte (30). Aber Romulus wurde zusammen mit seinen elf Geschwistern den fratres Arvales unterstellt, d.h. dem Priesterstand eingegliedert. Numitor, Vater der Ilia bei Fabius, wird plausibel von Νεμέτορ abgeleitet, was soviel wie Verteiler, Richter bedeuten würde. Er war der ältere Bruder des Amulius und als Vater wurde ihm ein König Procas bzw. Aventinus zuerkannt (Cass. Dio, frg. 3, 10). Aventinus war also der Vater beider Brüder, wobei Amulius nur irrtümlich seinen Namen bekam.

Altar
Abb. 4: Lokrischer Terrakotta-Altar aus der Nekropole Rosarno, Reggio di Calabria, MN. 2871. Hier nach C. Robert, Tyro. Hermes 51, 1916, Abb. 1 auf S. 274;
K. Schefold - F. Jung, Die Urkönige (1988) Abb. 36 auf S. 46.

Links im Bild, vor den Stufen des Altares, liegt die getötete Sidero. In der Mitte sitzen auf dem Altar der für die Mordtat verantwortliche Pelias (nur noch teilweise sichtbar) und seine Mutter Tyro, rechts von ihr steht der auf seine Lanze gestützte Neleus, sein rechter Arm mit dem Dolch wird von der Mutter gehalten. Aus der leeren Schwerthülle in der linken Hand des Pelias wird ersichtlich, daß er das gezückte Schwert einst in der Rechten hielt. Ganz rechts der greise König Salmoneus in der Tracht der Theaterkönige (vgl. Anm. 29). In der linken oberen Ecke wird ein Sklave sichtbar, welcher zu einem Stock mit Ledersack noch die Skaphe trägt. Um 340 v. Chr.


Der Aventinus mons wird als frühe Nekropole Roms angesehen, es sollen dort Remus und Titus Tatius ihr Grab gefunden haben (31). Titus Tatius war als König der Sabiner sicherlich mächtig gewesen, ähnlich angesehen mag auch Remus einzustufen sein, der frühzeitig zu Tode kam, entweder von der Hand des Bruders starb wegen Mißachtung des sulcus primigenius oder im Kampf, vielleicht ist sein Tod als natürliches Ausleseverfahren zu werten. Die Überstellung des Romulus an die Dirne Acca Larentina sieht nach einer Einmengung des Volkes in die Gebarung der Könige aus, läßt aber eher noch an eine priesterliche Förderung denken. Die nährende Wölfin als Abstimmung oder Herausforderung zu Delphi aufzufassen, dessen Wahrzeichen der Wolf gewesen ist, wäre insofern zulässig, als sich daraus eine abstrakte Gemeinsamkeit in der religiösen Gebarung ablesen läßt. Jedenfalls kann für den Helden Herakles gelten, daß er die Anliegen des Apollonheiligtums von Delphi vertrat (32).

Das Aufscheinen des vergöttlichten Hercules, der über einen Tempeldiener, der im Würfelspiel gegen den Gott verloren hatte, zum Liebhaber der Amme wurde und ihr den reichen Tarutius als Gatten verschaffte, ergab sich aus seiner Funktion eines Schutzherrn für Romulus. Er trat hier aber als Ahnherr in Erscheinung, denn sein Stammbaum reichte über einen Sohn Latinus und der Rome (Tochter der Troerin Rome) auf Lavinia und Aeneas sowie deren Tochter Ilia, welche von Mars den Romulus und den Remus gebar, herab (33). Die große Unbekannte dieses Stammbaums ist an den Latinus geknüpft. Denn wir finden ihn sowohl als Sohn des Hercules als auch des Odysseus bzw. Telemachos. Im ersteren Fall wäre Fauna von Hercules schwanger gewesen und hätte danach Faunus zum Gemahl genommen. Im anderen Fall wird Latinus als Tyrsener bezeichnet, wobei auf die Heimat des Odysseus, Ithaka, angespielt sein wird. Dieser Tyrsener (?) Latinus wurde mitunter dem Priesterkönig von Delos, Anios, gleichgesetzt, der ein Sohn des Apollon gewesen sein soll (34). Als Voraussetzung für seine Herkunft kämen somit die Insel der Kirke - Kirke als Mutter des Latinus, von Odysseus gezeugt -, oder aber Delos in Frage, wobei Odysseus als Tyrsener, der Priester Anios aber als dem Apollonkult zugehörig einzustufen wären. Im letzteren Fall wäre Odysseus nicht mehr maßgeblich für die Herkunft des Latinus anzusehen, sondern der Apollonkult von Delos hätte seine Expansion mit der Hilfe von manipulierten Herkunftsangaben betrieben. Der Tyrsener Latinus erhielt Rome zur Frau, die das troische Erbe verkörperte (35). Die Version, wonach er eine Amata ehelichte, erscheint wenig plausibel, weil Amata als Anrede für eine Vestalin gebräuchlich war, nicht aber für eine verheiratete Frau. Daß sie aber trotzdem die Mutter der Lavinia gewesen sein mag, weil Latinus von Rome nur drei Söhne besaß, ist möglich. Dann war Lavinia ein außereheliches Kind, die dem Aeneas in zweiter Ehe zugeteilt war. Nach dessen Tode mußte sie vor Askanios, des Aeneas Sohn aus erster Ehe, fliehen und sie versteckte sich in den nahen Wäldern. Ihre Tochter von Aeneas aber war nach dieser Version jene Ilia, welche von Mars Romulus und Remus gebar (36).

Ihres Erbes wegen wurde Ilia zur Vestalin bestimmt. Mit der Hilfe eines Gottes, in diesem Falle ist es Mars, wurde Ilia trotzdem schwanger. Erst nach der Geburt der beiden Kinder wurde sie als Vestalin hingerichtet, über den Vater ihrer Kinder wurde Romulus Thronanwärter. Mit dem Gott Mars haben wir wahrscheinlich als Hintergrund für den Zeugungsakt die Salier, welche dem Mars dienten und parallel zu den Vestalinnen ihren Verpflichtungen nachkamen (37), zu vermuten. Der Flamen Martialis lebte in konfarreierter Ehe, was wohl sein Zeugungsverbot - bis auf Ausnahmen - bedeutete. Romulus wurde aus diesem Grunde proles Martia benannt, war also im eigentlichen Sinn ein teras, eine vom Gott Mars gewollte Geburt. Das Erbgut der Ilia von Aeneas und dessen zweiter Frau Lavinia, also troisches Erbe, wurde von Amulius eingezogen, der als König von Alba Longa aufgrund seines Reichtums zur Macht gekommen war, er soll vom Blitze des Zeus erschlagen worden sein. Eine sog. göttliche Macht zog ihn also zur Verantwortung. Das troische Erbe gelangte an die Tochter des Numitor, die wir uns aber als Abkömmling der Lavinia vorzustellen haben. Mit Romulus, dem Kinde einer Vestalin, war wohl ein Teil des troischen Besitzes in die Hände der Salier gelangt und damit zum staatlichen Besitztum geworden. Der Sage nach töteten aber die Zwillinge Romulus und Remus den Amulius und rächten damit den Numitor - in dieser Version den Vater der Ilia - und erneuerten ihn in seinen Herrscherrechten (38). Das Motiv des grausamen Oheims erscheint analog gestaltet zur bösen Sidero, die von den Rache nehmenden Enkelsöhnen ermordet wurde. Die erwachsenen Söhne von entrechteten Frauen, welche ihre Mutter nach einer Anagnorisis rächten und ihr Genugtuung widerfahren ließen, scheint ein Mittel gewesen zu sein, den wahren Sachverhalt über das Einschleusen von göttlichen Wunschkindern zu verschleiern. Der Grund für solche Manipulationen war die Entmachtung von Herrschern, die durch Versklavung des Volkes Reichtümer erworben hatten, unter Zuhilfenahme von göttlichem Nachwuchs. Erst mit dem Volkshelden Herakles war es von Delphi aus zur Zertrümmerung dieses absoluten Vorrechtes der Könige und zur Entmachtung der Oberhoheit gekommen, aber unter ungerechtfertigten Voraussetzungen.

Die nährende Wölfin, das säugende Muttertier für zwei Knaben, als teras der Gründungsgeschichte Roms und Abzeichen für seine göttliche Protektion aufzufassen, haben ein Äquivalent zu Delphi, dessen Wahrzeichen ein Wolf geworden ist (Paus. X 14, 7). Er verkörperte die ägyptische Tradition des Anubis, welcher in der Bedeutung von Wartung der Toten in Delphi ein Denkmal erhielt (39).

Acca Larentina, die Pflegemutter des Romulus, ist an die Stelle der Herdentiere getreten, welche - wie die Muttertiere aus der Herde - als Amme Verwendung fand. Sie gehörte also zu den nachrangigen Menschen, die sich als Amme ihren Lebensunterhalt verdienen mußten. Die Geschwister des Romulus waren jene Arvales fratres (40), die für Kulthandlungen zu friedlichen Zwecken bezeugt sind. Dazu gehörte das Verbot des Eisens, wohl als Waffenverbot zu interpretieren, und die Verwendung von handgeformten Töpfen, womit am ehesten an die Gemeinschaft von bewußt einfach lebenden Mönchen angespielt sein wird. Sie waren speziell für den Kaiserkult eingesetzt, es waren Fruchtbarkeitsriten, denen sie vorstanden, das bezeugt ihre Verbindung zur Dea Dia, die mit der Tellus bzw. Ceres in Relation gesetzt war. Die feriae conceptivae sind am ehesten mit den Ambarvalia gleichzusetzen, welche der Entsühnung der Fluren dienten, dafür wurden Ähren geopfert, außerdem für die männlichen Gottheiten Ochsen und für die weiblichen Kühe dargebracht, Stiere aber dem Mars. Nach allem sehen diese Fruchtbarkeitsriten wie eine Anspielung auf die animalische, aber speziell weibliche Fruchtbarkeit aus - beides auf die Tellus als Mutter Erde übertragen; die feriae conceptivae wären als Tage der Empfängnis zu deuten, die es, als schuldhaft empfunden, zu entsühnen galt (41). Wenn man die Gleichsetzung des Hercules mit Faunus überlegt, nämlich daß der Volksheld Herakles, von Delphi gefördert, nunmehr als Faunus seine Rolle als Stammvater der Ilia (bzw. des Romulus) für Rom antrat, dann liegt darin eine Verunglimpfung des Helden und ein Gegensatz zum Apollonkult von Delphi vor, denn Hercules als Vater des Latinus, zum Ahnherrn der Ilia geworden, erhielt als uneigennütziger Heros Anspruch auf einen königlichen Stammbaum (Dionys. Hal. ant. I 44). Doch in seiner Rolle als Ahnherr und Liebhaber der Amme wurde er zum zeugenden Partner erniedrigt, der seiner Geliebten einen reichen Gatten, nämlich Tarutius, verschaffte. Als Ahnherr hatte er sich dem Würfelspiel hingegeben, um sich wenig göttlich mit einem außerehelich gezeugten Sohn im nachhinein einen Stammbaum anzueignen, der ihn für die Gründungsgeschichte von Rom auswies (42). Die Umkehrrichtung vom selbstlosen Helden, der sich der Adelsmacht mit der Hilfe von Delphi entgegenstellte, zum vergöttlichten Spieler und Liebhaber, der mit seinem unrechtmäßig erworbenen Vermögen leichtfertig umging, tut sich uns auf. Als Heros vom Volke auserkoren, wurde er von Rom aus zum verspotteten Träger einer neuen Adelsrichtung erwählt. Auch hier im Dienste einer Gottheit stehend, wie uns der Stammbaum lehrt, nämlich im Dienste des Gottes Mars. Von Gades kommend, dem antiken Erytheia (43), von wo er die Rinder des Geryoneus zurückgeholt hatte, führte ihn sein Weg direkt nach Latium. Dort angelangt, zeugte er mit der Frau des Königs Faunus den Latinus. Im Grunde genommen haben wir mit Herakles einen Helden vor uns, dessen Sympathien den Entrechteten gehörten, der sich mit seinen Freiheitsbestrebungen von den Adelsfamilien absetzte und mit der Erlegung des Geryoneus vermutlich einen Wärter bzw. die Aufsicht über ein Sklavenghetto beseitigte. Er ist der Held des kleinen Mannes, auf dessen Spuren sich jetzt die Gründungsgeschichte von Rom etablierte. Er hatte für sich auf sämtlichen Lohn verzichtet, um nachträglich als Schutzpatron des Romulus für den Stammbaum des Aeneas zu fungieren - eine Absage an Delphi also und eine Erneuerung der Adelspolitik.

Vom selbstlosen Heros gelangte der gewaltige Held zum leichtlebigen Ahnherrn einer neuen Adelsausrichtung, die sich von Troja herleitete und zum dortigen Herrscheradel gehörte. Die Niederlage des Volkshelden fand Verwendung für eine Erneuerung der Adelspolitik.

Mit der Einheirat der Melanippe nach Metapontum kamen pylischer Reichtum und das Vermächtnis von Iolkos an einen unabhängigen Ort. Da sie aber dem König Metapontos gottgewollte Zwillinge entbunden hatte, stand ihr zwar der Besitz des Königs als der nunmehr rechtmäßigen Gattin zu, nur daß ihre Söhne als terata ihr nicht zuerkannt zu werden brauchten, es erhielt sie der Gatte als priesterlichen Nachwuchs von einer Priesterin. Der König hatte mit seinen eigenen Kindern die Ansprüche auf den Thron nach dem Herkunftsland zurückgereicht, deshalb kann deren Benennung auf Aiolos und Boiotos rückwirkend auf den Heimatboden, also symbolwertig, verstanden werden (44).

Melanippe und ihr Aufgehen im pylischen Bürgertum wurde für die Weiterführung der Sage nicht mehr verwendet. Ihre Zwillinge führten den Namen nach zurück auf griechischen Boden. Nur das Schicksal der Tyro erneuerte sich am Schicksal der Ilia. Als Gemeinsamkeiten für die Legendengestaltung der beiden Frauen können wir festhalten: 1) Zeugung durch einen Gott, 2) Geburt von Zwillingen, 3) Aussetzen derselben und 4) deren Säugung durch Tiere bzw. von einer Amme, dann 5) Einkerkerung der Mutter, nur der letzte Punkt trifft auf Tyro nicht zu, dafür verhält sich das Schicksal der Melanippe hier analog zu dem der Ilia.

Die Einkerkerung war für unmoralische Lebensweise vorgesehen, den Müttern wurden die Kinder genommen, die auf ihre Verwendung hin von Priestern erzogen wurden. Von der Einmauerung in einem Monument bzw. Grabmal erfahren wir aus den Satzungen der Vestalinnen, sie wurden bei Verstößen gegen die Keuschheit lebendig begraben (Plut. mor. 286f.).

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